Nach Krawallen in Städten:"Zwei Frankreichs, die sich nicht verstehen"
von Susanne Freitag-Carteron
|
Die Ausschreitungen in den Vororten haben ein hilfloses Frankreich gezeigt. Viele Gemeinden haben die Feierlichkeiten zum Nationalfeiertag abgesagt, aus Angst vor neuen Krawallen.
Am Samstag demonstrierten Tausende Franzosen in mehreren Städten gegen Polizeigewalt - doch die Lage in den Vorstädten hat sich beruhigt.
Quelle: ap
Es brennt nicht mehr, die Nachrichtensender haben wieder andere Aufmacher. Doch die Menschen in Frankreichs Vorstädten stehen vor den Trümmern der Krise. Häuser zerstört. Läden verwüstet. Wer für die Milliardenschäden aufkommt? Unklar.
Die Wut der Vorstadtjugend ist über sie hereingebrochen. Ausgelöst durch den Tod des 17-jährigen Nahel aus Nanterre. Er starb durch den Schuss eines Polizisten - eine verweigerte Autokontrolle. Die Staatsanwaltschaft ermittelt.
Vor einer Woche eskaliert die Gewalt auf Frankreichs Straßen. Vor allem in den Banlieues fachte der Tod des 17-jährigen Nahel eine tief sitzende Wut weiter an.05.07.2023 | 6:17 min
Rapper: Jugendliche "sind gefangen in ihrem Hass"
Im Problemvorort Clichy-sous-Bois steht der Vorstadt-Rapper Alibi Montana vor einem ausgebrannten Auto. "Das gehörte vielleicht einem Familienvater oder einer Mutter, die damit zur Arbeit fahren wollte, um die Rechnungen zu bezahlen. Aber darüber denken die Jugendlichen nicht nach, sie sind gefangen in ihrem Hass", sagt er.
Rapper Alibi Montana über die Stimmung in den Vororten. 08.07.2023 | 1:27 min
Neben ihm steht sein Cousin Henri. "Ich verstehe die Jugend von 2023", sagt er. "Bei uns war das damals genauso. Das hat uns ins Herz getroffen, da sind wir einfach ausgerastet."
Henri hat im Jahr 2005 Autos angezündet. Damals kamen in Clichy-sous-Bois zwei Jugendliche bei einer Verfolgungsjagd mit der Polizei ums Leben. Wochenlang brannten die Vorstadt-Ghettos. Entsetzt schaute die ganze Welt nach Frankreich. Auf die "Grande Nation", der die Situation komplett zu entgleiten schien.
Pläne von Sarkozy und Hollande für Vorstädte erfolglos
Nicolas Sarkozy war damals Innenminister und wurde später Präsident. Er kündigte einen Marshallplan für die Vorstädte an. Gebracht hat es wenig. Sein Nachfolger François Hollande kündigte einen "Plan Banlieue" an, auch er blieb weitgehend erfolglos.
Dass der amtierende Präsident Emmanuel Macron in den Vorstädten Erfolge feiern wird, ist unwahrscheinlich. Er hatte die Bürgermeister der von den Krawallen betroffenen Kommunen in den Élysée-Palast eingeladen und angemessene Maßnahmen angekündigt. Dabei sei nicht viel herausgekommen, sagte einer von ihnen.
"Politik hat keine soziale Antwort"
Alibi Montana tourt seit über 20 Jahren durch die Problemviertel. "Wir haben heute zwei Frankreichs, die sich gegenüberstehen und die sich nicht verstehen", sagt er. "Das ist der Kern dieses Problems."
Der Tod von Nahel brachte ein übervolles Fass zum überlaufen. Schulen, Rathäuser, Polizeidienststellen, auch Bürgermeister wurden angegriffen. Es ist, als ob diese Generation zunichtemachen will, was diese Republik repräsentiert, von der sie sich nicht vertreten fühlen.
Alibi trifft einen alten Freund. Der hat früher Autos angezündet, dann als Mediator gearbeitet. Heute organisiert er sportliche Aktivitäten in Clichy-sous-Bois. "Die Krawalle heute - brutaler und schneller als 2005. Früher hast Du erst in den Abendnachrichten gesehen: 'Ah, in Clichy-sous-Bois hat es gebrannt.' Die anderen Krawalle kamen mit einem Tag Verzögerung. Heute verbreiten sie sich im Bruchteil einer Sekunde", sagt er.
Social Media als Brandbeschleuniger von Krawallen
Die sozialen Medien haben die Krawallkultur zu einem Massenphänomen gemacht. Die Nachrichtensender verbreiten sie in Echtzeit; dort wird das Thema in Dauerschleife diskutiert.
So kreist das Land Tag und Nacht um seine offene Wunde. Die extreme Rechte kann sich die Hände reiben - kostenloser Wahlkampf.
Die Politik hat immer nur dann hingesehen, wenn es zu massiven Ausschreitungen kam. Jetzt ist es also wieder soweit. Vielleicht wird es einen neuen Vorstadtplan geben. Aber dort, wo Frankreichs vergessene Kinder inzwischen in der fünften Generation vergessen wurden, ist es für grundlegende Maßnahmen längst zu spät.
In keinem anderen Bereich hat der Staat in Frankreich so jämmerlich versagt wie in den Vorstädten seiner Republik, wo die eigenen Regeln schon lange nicht mehr gelten.
Thema
Mehr zu den Unruhen in Frankreich
44:22 min