Urteil: Schutzstatus für Syrer auf der Kippe

    Schutzstatus für Syrer in Frage:Paradigmenwechsel im Asylrecht?

    von Daniel Heymann
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    Keine ernsthafte, individuelle Bedrohung des Lebens: So hat das Oberverwaltungsgericht NRW im Fall eines Syrers entschieden - und damit die Sicherheitslage in Syrien neu bewertet.

    Flüchtlinge in Hamburg
    Das Urteil des Oberverwaltungsgerichts NRW könnte weitreichende Folgen für den Schutzstatus von Syrern in Deutschland haben.
    Quelle: dpa

    "Keine ernsthafte, individuelle Bedrohung ihres Lebens oder ihrer körperlichen Unversehrtheit" - so schätzt das Oberverwaltungsgericht (OVG) NRW in einem aktuellen Urteil die Lage für Zivilpersonen in Syrien ein. Eine Bewertung, die nicht selbstverständlich ist, wurde Syrern bislang doch zumindest der sogenannte subsidiäre Schutz gewährt.
    Die Richterinnen und Richter aus Münster stellten sich damit gegen die bisher übliche Praxis des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF). Es ist zugleich die erste obergerichtliche Entscheidung dieser Art.
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    Richtungsweisende Begründung des OVG?

    Der Kläger aus der Provinz Hasaka im Nordosten Syriens war 2014 nach Deutschland eingereist. Weil er zuvor wegen Einschleusung von Menschen aus der Türkei nach Europa in Österreich zu einer mehrjährigen Freiheitsstrafe verurteilt worden war, verwehrte ihm das BAMF sowohl die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft als auch - entgegen seiner sonstigen Praxis bei Menschen aus Syrien - die Gewährung subsidiären Schutzes. Dagegen klagte der Mann erfolgreich vor dem Verwaltungsgericht Münster.

    Asylrecht: Ein Asylrecht steht demjenigen zu, der in seinem Herkunftsland politisch verfolgt wird, d.h. wem aufgrund seiner Nationalität, Zugehörigkeit zu einer ethnischen oder sozialen Gruppe, seiner politischen Überzeugungen oder seiner Religion bei Rückkehr in die Heimat durch die dortige Staatsgewalt schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen drohen.

    Flüchtlingsschutz:
    Die Anerkennung als Flüchtling beruht auf der Genfer Flüchtlingskonvention. Der Flüchtlingsschutz hat ähnliche Voraussetzungen wie die Asylberechtigung, greift aber auch, wenn die Bedrohung im Herkunftsland von nichtstaatlichen Akteuren, wie etwa Milizen oder Terrorgruppen, ausgeht.

    Subsidiärer Schutz: Die dritte Schutzform, sogenannter subsidiärer Schutz, setzt keine politische Verfolgung voraus. Stattdessen genügt es, dass im Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht und dort kein Schutz geboten wird. Ernsthafter Schaden droht beispielsweise dann, wenn durch Todesstrafe oder Folter Leib und Leben in Gefahr sind.

    Die Entscheidung des Verwaltungsgerichts hob das OVG nun auf - und zwar nicht nur aufgrund der Verurteilung als Schleuser, auf die sich das BAMF bei seiner Ablehnung gestützt hatte, sondern in erster Linie wegen einer Neubewertung der Sicherheitslage in Syrien:

    Die bewaffneten Auseinandersetzungen und Anschläge erreichen kein solches Niveau (mehr), dass Zivilpersonen beachtlich wahrscheinlich damit rechnen müssen, im Rahmen dieser Auseinandersetzungen und Anschläge getötet und verletzt zu werden.

    Pressemitteilung des OVG NRW zum Urteil 14 A 2847/19.A

    Mit dieser Einschätzung beziehen sich die Richterinnen und Richter auf die Sicherheitslage im ganzen Land. Sollten andere Gerichte sich dieser Bewertung anschließen, wäre damit die pauschale Zuerkennung eines Schutzstatus für Menschen aus Syrien Vergangenheit.
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    Kritik von Asylverbänden, Verständnis von Buschmann

    Bindend ist die Einschätzung für untergeordnete Gerichte allerdings nicht. Da die schriftliche Urteilsbegründung noch nicht vorliegt, ist auch unklar, auf welcher Grundlage der Senat seine Bewertung der Sicherheitslage in Syrien vorgenommen hat. Das Auswärtige Amt hat sich zu der Entscheidung noch nicht geäußert, jedoch darauf hingewiesen, dass nach seinen Erkenntnissen weiter Kampfhandlungen in Syrien stattfinden - teilweise mit Folter und Hinrichtungen. Eine Sprecherin von Pro Asyl warf dem OVG deshalb vor, es entscheide an der Realität in Syrien vorbei. Außerdem sei vor dem "Folterregime des Diktators Assad" niemand sicher.
    Zustimmend äußerte sich dagegen Bundesjustizminister Marco Buschmann. Der FDP-Politiker betonte, dass man sich die Situation im Land genau anschauen und gegebenenfalls auch unterscheiden müsse. Es handle sich vor diesem Hintergrund um ein nachvollziehbares Urteil, "wenn man davon ausgeht, dass es auch Regionen gibt, wo nicht zwingend Gefahr für Leib und Leben besteht".
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    Asylrechtsexperte sieht Signalwirkung - auch für Afghanistan

    Ähnlich bewertet Prof. Daniel Thym, Leiter des Forschungszentrums Ausländer- und Asylrecht an der Universität Konstanz, das Urteil. In einigen syrischen Regionen gebe es zwar noch Bürgerkrieg, in anderen Landesteilen sei die Lage für Zivilpersonen aber weitgehend sicher. Die Entscheidung komme für ihn daher nicht unerwartet:

    Die Lageberichte der europäischen Asylagentur zeigen schon länger, dass es in Syrien auch vergleichsweise sichere Regionen gibt. Dass nun deutsche Gerichte mit ihrer Einschätzung nachziehen, überrascht mich nicht.

    Prof. Daniel Thym, Universität Konstanz

    Das gelte laut Thym nicht nur für Syrien, sondern auch für Afghanistan. Der Asylrechtsexperte hält es für gut möglich, dass künftig mehr Verwaltungsgerichte die Sicherheitslagen in beiden Ländern neu bewerten und auf dieser Grundlage die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder des subsidiären Schutzes ablehnen.
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    Selbst wenn die Rechtsprechung sich in dieser Frage ändern sollte - zu mehr Abschiebungen führt das nicht automatisch. Neben praktischen Schwierigkeiten in der Durchführung bestehen weiterhin auch rechtliche Hürden, etwa in Form von Abschiebeverboten nach dem Aufenthaltsgesetz. Thym schließt allerdings nicht aus, dass die Gerichte auch in diesem Bereich ihre Praxis neu justieren:

    In der Vergangenheit war man bei Abschiebeverboten relativ großzügig. Wenn man aber die Lage vor Ort jetzt anders beurteilt, ist auch hier eine strengere Linie der Gerichte denkbar.

    Prof. Daniel Thym, Universität Konstanz

    Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Das OVG hat die Revision nicht zugelassen, dagegen könnte der Kläger aber noch eine sogenannte Nichtzulassungsbeschwerde einlegen. Das letzte Wort hätte dann das Bundesverwaltungsgericht.
    Daniel Heymann ist Redakteur in der ZDF-Redaktion Recht und Justiz.

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    Quelle: ZDF

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