Abschiebung der Jesiden in den Irak: Wortbruch der Ampel?

    Wortbruch der Regierung?:Jesiden: Abgeschoben in "das Land der Täter"

    von Ninve Ermagan
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    Im März hatte die Bundesregierung die Abschiebungen von Jesiden in den Irak noch als "unzumutbar" bezeichnet. Doch seit Monaten haben die Rückführungen zugenommen. Ein Wortbruch?

    Jesiden
    Jesiden sind eine religiöse Minderheit unter den Kurden. Viele mussten vor der Terrormiliz Islamischer Staat flüchten. (Symbolbild)
    Quelle: picture alliance / abaca

    Majid traut sich nicht mehr in seine Wohnung. Er habe Angst, zu Hause zu schlafen und verstecke sich derzeit bei Verwandten im Raum Köln. Denn vor drei Monaten kam der Bescheid: Der 29-jährige Jeside soll in den Irak abgeschoben werden.
    Seit sechs Jahren lebt er in Deutschland. Der Islamische Staat (IS) machte im August 2014 Jagd auf seine jesidische Religionsgemeinschaft: Sie töteten Männer und ältere Frauen. Die jungen Mädchen wurden als Sexsklavinnen verkauft und vergewaltigt.

    Mehr als 5.000 Jesiden durch den IS getötet

    Vielen blieb aufgrund des Genozids an ihrer Religionsgemeinschaft keine andere Wahl, als die Flucht zu ergreifen. Zahlreiche Jesidinnen und Jesiden fanden in Deutschland eine neue Heimat - darunter auch Majid.
    Insgesamt wurden Hunderttausende vertrieben, mehr als 5.000 Menschen getötet und etwa 7.000 verschleppt. Noch immer werden zahlreiche Jesiden vermisst. Noch immer werden Massengräber im Irak entdeckt.

    Größte jesidische Diaspora in Deutschland

    In Deutschland lebt die größte jesidische Diaspora weltweit. Erst im Januar 2023 hatte der Deutsche Bundestag die Verbrechen des IS an den Jesiden als Völkermord anerkannt. Mit dieser Einstufung sollte auch ein Signal an die hier lebenden Jesiden gesendet werden, dass Deutschland Verantwortung für die Hinterbliebenen übernehme und die Verbrechen an der Religionsgemeinschaft aufarbeite. In dem Antrag heißt es:

    Der Deutsche Bundestag wird sich mit Nachdruck zum Schutz jesidischen Lebens in Deutschland und ihrer Menschenrechte weltweit einsetzen.

    Antrag des Deutschen Bundestags

    Richter des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main am 30.11.2021
    Das Oberlandesgericht Frankfurt hat einen IS-Anhänger im Prozess zum qualvollen Tod eines jesidischen Mädchens zu lebenslanger Haft verurteilt.30.11.2021 | 2:54 min

    Schutzquote für Jesiden auf 48,6 Prozent gesunken

    Im März berichtete der WDR von der Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage:

    Für jesidische Religionszugehörige aus dem Irak (…) ist es - ungeachtet veränderter Verhältnisse - nicht zumutbar, in den früheren Verfolgerstaat zurückzukehren.

    Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage im März

    Doch seitdem hat das Bundesinnenministerium (BMI) die Lage für Jesiden im Nordirak neu bewertet. Die Folge: Ihre Anträge auf Asyl werden zunehmend abgelehnt. Während die Schutzquote - der Anteil aller Asylanträge, über die vom zuständigen Bundesamt positiv entschieden wurde - im Jahr 2017 noch bei mehr als 90 Prozent lag, ist sie im vergangenen Jahr auf 48,6 Prozent gesunken.

    BMI geht nicht mehr von einer Gruppenverfolgung aus

    Mitte November teilte das BMI den Parlamentsnachrichten des Bundestags mit: "Anders als in den Jahren 2014 bis 2017 gehe man mit Blick auf den Irak aber nicht mehr von einer Verfolgung der Jesiden als Gruppe aus. "




    Über diese Neubewertung der Lage im Nordirak herrscht in der Bundesregierung aber offenbar keine Einigkeit. Denn zeitgleich weisen Vertreter des Auswärtigen Amts weiterhin auf "die schwierigen Bedingungen" um die Sindschar-Region und den Camps im Nordirak hin.

    Psychologe: "Jesiden nicht in ein genozidales Umfeld zurückschicken"

    Der Psychologe und Autor Jan Ilhan Kizilhan sieht in dem Vorgehen der Bundesregierung ein "Wortbruch." Er betreut Jesiden im Irak, und gibt im Interview mit ZDFheute zu verstehen:

    Die Anerkennung des Genozids bedeutet, dass Jesiden nicht in das Land der Täter - und auch nicht in ein genozidales Umfeld zurückgeschickt werden dürfen.

    Jan Ilhan Kizilhan, Psychologe und Autor

    Sindschar-Region regelmäßig von der Türkei angegriffen

    Die Entscheidung der Bundesregierung sei für Kizilhan "nicht nachvollziehbar." Die Sindschar-Region sei immer noch gefährlich, "da das Gebiet regelmäßig von der Türkei mit Drohnen angegriffen wird. Darüber hinaus wird die Region von vielen Rebellengruppen kontrolliert - und in einigen Wohnungen befinden sich noch Minen und Sprengfallen des IS."

    Die Umstände führen dazu, dass 300.000 Jesiden als Binnenflüchtlinge in Zeltlagern ausharren müssen.

    Jan Ilhan Kizilhan, Psychologe und Autor

    Irak: "Viele Ärzte haben das Land verlassen"

    "Die Gesundheitsversorgung ist schlecht, denn viele Ärzte haben das Land verlassen", beschreibt der Psychologe die aktuelle Situation im Nordirak. Viele Traumatisierte könnten nicht mehr behandelt werden. Vor sechs Wochen bereiste er die Flüchtlingscamps und zieht die bittere Bilanz: "In diesen Camps kann man nicht leben." Der Psychologe blickt deshalb sehr besorgt auf die gestiegenen Abschiebungen.

    Ich befürchte, dass sich viele junge Menschen, die hier bereits in Deutschland zur Schule gehen und plötzlich in diese Camps abgeschoben werden, das Leben nehmen könnten.

    Jan Ilhan Kizilhan, Psychologe und Autor

    Rassismus und Diskriminierungen gegen Jesiden

    Der Islamische Staat trieb die Verfolgung der Jesiden auf die Spitze - und die Anfeindungen gegen sie hören nicht auf. Auf Social Media kursieren Videos, die jesidische Glaubensanhänger als "Teufelsanbeter" bezeichnen.
    Eine Nahaufnahme der Kriegsreporterin Düzen Tekkal
    Düzen Tekkal, jesidisch-deutsche Kriegsreporterin, über IS-Rückkehrer(-innen) und die Lage der Jesiden heute. 09.04.2019 | 5:37 min
    Ein anderer Jeside, der ebenfalls abgeschoben werden soll, beschreibt gegenüber ZDFheute die Repressalien, die seine Glaubensgemeinschaft ausgesetzt ist. Er sei immer wieder von Muslimen dazu gedrängt worden, zum Islam zu konvertieren.

    Geflüchteter: "Regelmäßig von muslimischen Nachbarn bedroht"

    Auch der 25-Jährige Salar (Name geändert) ertrug diese Gewalt radikaler Muslime nicht mehr. Er flüchtete im Juni nach Deutschland und bekam eine Aufenthaltsgenehmigung von drei Monaten. Nun soll er wieder zurück in den Irak.

    Wir Jesiden leben dort in heruntergekommenen Zelten und werden regelmäßig von muslimischen Nachbarn bedroht.

    Jesidischer Geflüchteter

    Salar erzählt von Schikanen und Misshandlungen. Ein Ereignis habe ihn besonders traumatisiert: Die Ermordung einer sechsjährigen Jesidin und ihrem Vater, der "wie ein Tier abgeschlachtet" worden sein soll.

    Nordrhein-Westfalen verhängt Abschiebe-Stopp

    Aktuell ist Nordrhein-Westfalen das einzige Bundesland, das einen formalen Abschiebestopp für Angehörige der jesidischen Minderheit verhängt hat.
    Die EU hat sich nach langem Ringen auf eine Reform des Asylsystems geeinigt.
    Die EU hat sich nach langem Ringen auf eine Reform des Asylsystems geeinigt. Beschleunigte Verfahren und Abschiebungen sollen illegale Migration eindämmen.20.12.2023 | 1:47 min
    NRW-Fluchtministerin Josefine Paul (Grüne) sagte, sie habe sich "mehrfach und über einen längeren Zeitraum" beim Bundesinnenministerium für einen bundesweiten Stopp eingesetzt - und blieb erfolglos. Paul appellierte an Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) "schnellstmöglich eine rechtssichere Perspektive" für Jesiden zu schaffen.

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