Gefängnisse in Italien: immer mehr Suizide gemeldet

    Italien:Überfüllte Gefängnisse mit tödlichen Folgen

    von Julian Degler, Rom
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    58 Gefangene haben sich seit Jahresbeginn in italienischer Haft schon das Leben genommen. Beobachter sehen darin die gravierenden Folgen überfüllter Gefängnisse und schlagen Alarm.

    Bilder für heute in Europa
    Die Situation in italienischen Gefängnissen ist prekär. Aktuell liegt die Auslastung der Gefängnisse bei über 130%. Das führt zu einer Zunahme an Selbstmorden, Angriffen auf das Personal und Protestdemonstrationen der Inhaftierten.24.07.2024 | 2:06 min
    In der Via del Pigneto im Osten Roms steht eine weiß angestrichene, begehbare Box aus Holz. Sie soll zeigen, wie es im Inneren einer Gefängniszelle aussieht: Grau, dunkel und eng. An der Tür der Zelle, in die eine kleine Luke eingebaut ist, hängt ein Plakat mit der Aufschrift: "Wir haben keine Zeit mehr". Darunter sind fünfzig Orte mit Datum und Alter gelistet: 6. Januar Ancona, 23 Jahre oder 2. Juli Livorno, 35 Jahre. Dann die Botschaft: "Stoppt die Suizide in den Gefängnissen".
    Das Plakat erinnert an diejenigen, die sich in diesem Jahr in Italiens Gefängnissen bereits das Leben genommen haben. Direkt daneben hat sich eine Gruppe von Strafverteidigern der Strafkammer Rom an diesem Donnerstagabend Anfang Juli versammelt, um auf die alarmierende Situation in den knapp 200 Gefängnissen des Landes aufmerksam zu machen. Für Giuseppe Belcastro, Vizepräsident der Strafkammer Rom und seine Mitstreiter ist klar: die prekären Zustände in Italiens Gefängnissen und deren Überfüllung sind Schuld an den vielen Selbsttötungen, die sich wie nie zuvor häufen.
    An einem Gefängnisgitter hängen ein Schnuller, eine Babymütze und eine Rassel. Auf einer Gitterstrebe steht ein Lippenstift.
    Wenn Eltern im Knast sitzen, beginnt ein Kampf um die Zeit mit den eigenen Kindern. Besuchsmöglichkeiten sind rar, Familien zerbrechen, und bei manchen reißt der Kontakt vollständig ab.15.07.2024 | 44:44 min

    Das ist eine Tatsache, die in einem zivilisierten Land, wie Italien es sein sollte, nicht nur Erstaunen oder Verwunderung, sondern regelrechtes Entsetzen hervorrufen muss. Dem muss ein Riegel vorgeschoben werden.

    Giuseppe Belcastro, Vizepräsident der Strafkammer Rom

    Laut einem aktuellen Bericht der Organisation "Antigone", die sich für die Rechte von Gefangenen in Italien einsetzt, haben sich seit Jahresbeginn 58 Menschen in italienischer Haft das Leben genommen – im Durchschnitt also alle drei Tage.

    Sollte dieser Trend anhalten, könnte in diesem Jahr schon bald der Rekordwert aus 2022 mit 85 Fällen übertroffen werden.

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    Ex-Häftling kämpft gegen Missstände hinter Gittern

    Auch Marco Costantini ist Teil der Veranstaltung. Im Alter von 42 Jahren kam er ins Gefängnis. 19 Jahre saß er wegen mehrerer Finanzdelikte in der Haftanstalt Rebibbia am Rande Roms. Der Ex-Häftling kennt die Zustände der Zellen, in denen die Gefangenen 20 Stunden am Tag verbringen. Heute klärt Costantini über die Missstände hinter Gittern auf. Er spricht von einem "Versagen der Justiz", denn auch für ihn hängen die Suizide mit den katastrophalen Haftbedingungen zusammen:

    Es sind staatliche Morde, denn der Staat nimmt diese Menschen in Gewahrsam. Es kann nicht sein, dass er sie so einfach sterben lassen kann.

    Marco Costantini, ehemaliger Häftling

    Hinter Gittern herrschen in Italien schon lange unzumutbare Verhältnisse. In vielen Haftanstalten sind desaströse hygienische Zustände vorzufinden. Nicht immer gibt es fließendes Wasser. Hitze im Sommer oder Kälte im Winter verschlimmern die Situation der Insassen, denn nicht überall sind Klimaanalagen oder Heizungen verbaut. Auch dreistöckige Betten, bei denen das letzte gerade noch eine Handbreite von der Decke entfernt ist, seien keine Seltenheit, wie Ex-Häftling Costantini erzählt.
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    Italienische Haftanstalten sind überfüllt

    Hinzu kommt die Überbelegung der Gefängnisse, rund 15.000 Plätze fehlen. Die Gefangenen-Hilfsorganisation "Antigone" oder Strafverteidiger schlagen daher Alarm. Denn in den Zellen der überfüllten Haftanstalten sind so auf zehn bis zwölf Quadratmetern oft drei oder vier Personen untergebracht, wie "Antigone" berichtet. Laut Europäischer Menschenrechtskonvention muss jede Person mindestens drei Quadratmeter Platz in ihrer Zelle haben – im Regina-Coeli-Gefängnis in Rom kaum einzuhalten.
    Denn die großen, städtischen Haftanstalten sind von der Überfüllung besonders stark betroffen. Im Regina-Coeli-Gefängnis, das mitten in Roms Innenstadt liegt, sind aktuell daher fast doppelt so viele Häftlinge untergebracht, als eigentlich vorgesehen.

    Gegenwärtig befindet sich insbesondere Regina-Coeli - aber ich denke, diese Situation teilen wir mit vielen anderen Einrichtungen - in einer sehr kritischen Phase, da die Zahl der in den Einrichtungen untergebrachten Insassen sehr, sehr stark gestiegen ist.

    Claudia Clementi, Direktorin Regina-Coeli-Gefängnis Rom

    Höhere Strafmaße und neue Strafbestände

    Doch die Gefängnisse füllen sich weiter. Eine der Ursachen dafür ist, dass die Regierung von Giorgia Meloni kurz nach Amtsantritt das Strafmaß bestimmter Delikte erhöht und neue Strafbestände eingeführt hat, ohne jedoch zusätzliche Kapazitäten in den Gefängnissen zu schaffen. So droht beispielsweise Organisatoren "illegaler Rave-Partys" nun eine Gefängnisstrafe von bis zu sechs Jahren.
    Zu spüren sind auch die unmittelbaren Auswirkungen des "Caivano-Dekrets", mit dem Italiens rechte Regierung härter gegen Jugendkriminalität vorgehen möchte. Ein Gesetz, das Strafen für Minderjährige verschärft und es leichter macht Jugendliche zu inhaftieren. Das Dekret hat rund ein halbes Jahr nach Inkrafttreten die Anzahl der Inhaftierten im Jugendstrafvollzug auf über 500 schnellen lassen – Zahlen, die seit Jahren nicht mehr verzeichnet wurden.

    In einer akuten Krise können Sie sich jederzeit kostenlos an die Telefonseelsorge unter der Nummer 0800-111 0 111 oder den Notruf 112 wenden. Krisendienste und Beratungsstellen in Ihrer Nähe finden Sie auf der Internetseite der Deutschen Depressionshilfe. Hilfe bei der Suche nach einem Therapieplatz bieten die Kassenärztliche Vereinigung Ihres Bundeslandes und die Patientenservice-Nummer 116 117.

    Eine Person hält ein Smartphone in der Hand. Darauf ist der WhatsApp-Channel der ZDFheute zu sehen.
    Quelle: ZDF

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