Protest gegen Westen: Iran nutzt Wut im Nahost-Konflikt

    Analyse

    Protest gegen Israel und Westen:Wie Iran vom Zorn der Araber profitiert

    Golineh Atai
    von Golineh Atai, Kairo
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    Wut, Hilflosigkeit, Frustration über die Politik - die Gefühle in großen Teilen der arabischen Welt, wenn es um den Krieg in Gaza geht. Iran versucht diese Stimmung auszunutzen.

    Proteste gegen Krieg
    Vor allem in arabischen Ländern gibt es große Wut über den Einsatz Israels in Gaza. In mehreren Staaten werden inzwischen westliche Produkte boykottiert. 15.11.2023 | 6:37 min
    Eine einzige Massendemonstration für Gaza hat es in der ägyptischen Hauptstadt Kairo gegeben. Nach neun Jahren allgemeinem Demonstrationsverbot rief Staatschef Abdel Fattah Al-Sisi persönlich dazu auf. Zehntausende sammelten sich. Doch dann strömten Tausende auf den Tahrirplatz, wo die Revolution von 2011 stattgefunden hatte - und riefen plötzlich Parolen des Arabischen Frühlings: "Brot, Freiheit, soziale Gerechtigkeit".

    Situation der Palästinenser politisiert Araber anderer Länder

    Polizisten drängten sie zurück, nahmen mehr als hundert Demonstranten fest. "Wenn das Regime - das ständig Angst um die Stabilität des Landes hat - uns wirklich erlauben würde, friedlich zu protestieren, dann wären jetzt zweifelsohne Millionen Menschen auf der Straße", erklärt der Oppositionelle Khaled Daoud.
    Für seine Kritik am Regime verbrachte Daoud 19 Monate im Gefängnis. Er verweist auf den historischen Zusammenhang zwischen dem Einsatz für die Selbstbestimmung der Palästinenser und dem Einsatz für Menschenrechte und Freiheit in allen arabischen Ländern. "Durch das Thema Palästina fanden viele Studenten und Aktivisten Eingang in die Politik. Das politisierte uns alle, in den späten 1980ern und dann während der zweiten Intifada."
    Rauch über Gebäude
    Wut, Verzweiflung und häufig auch offener Hass herrschen in Israel und Gaza. Jahrzehntelange Versuche den Nahost-Konflikt einzudämmen liegen in Trümmern.09.11.2023 | 43:24 min
    "Wer Palästina sagte, der kritisierte im gleichen Atemzug auch die Niederschlagung von Protesten in den arabischen Ländern, oder die Förderung der hiesigen autoritären Regime durch den Westen".

    Kuwait, Libanon, Ägypten: Boykott westlicher Produkte

    Wo es keine Möglichkeit für Proteste gibt, werden andere Wege gefunden. "Du kannst spenden für Gaza. Und du kannst westliche Produkte meiden. Meine Frau hat gerade ihre Lieblingskaffeemarke aufgegeben. Meine Tochter ihren Lieblings-Softdrink und ihren Lieblingsburger", erklärt Daoud. Eine Boykottbewegung hat an Fahrt aufgenommen, nicht nur in Ägypten.
    In Kuwait machen große Supermärkte mit, in Libanon sprühen Aktivisten Graffiti an die Fassaden US-amerikanischer Fastfoodketten und in Ägypten hat eine App, die lokale Produkte anbietet, in den vergangenen Wochen Millionen neue Abonnenten gewonnen. Ali Said Ali, Gründer der "Made in Egypt"-App, erklärt sich den Erfolg so: "Es geht um Mitgefühl für unsere Brüder in Gaza. Jeder Ägypter fragt sich gerade, was er tun kann. Der Krieg war ein Weckruf. Und das ist unser Beitrag zu den globalen Boykottaufrufen."
    Die ägyptische Handelskammer sieht den Boykott eher kritisch. Die meisten westlichen Marken werden in Ägypten hergestellt. Der Kunde schneide sich mit dem Verzicht eher ins eigene Fleisch und westliche Marken litten nur minimal darunter.

    Enttäuschung über Gaza-Politik der arabischen Staaten

    Tun die arabischen Staatschefs genug? Eine heikle Frage in dieser Region. Die Antworten sind widersprüchlich, doch zwischen den Zeilen ist die Enttäuschung herauszuhören, und in den sozialen Medien tritt diese deutlich zutage. Die meisten arabischen Gipfel produzierten nur heiße Luft, seien reine Show, in Prachtbauten fernab vom Leid in Gaza, so die Kritik. Jedes Treffen bringe nur Erklärungen, Verurteilungen, Bedauern und Entsetzen hervor, aber keine Taten, keine Aktionspläne.
    Da die Könige, Emire und Präsidenten sich oft uneinig sind, hat die arabische Welt als Block wenig internationalen Einfluss. Oberste Priorität ist für Länder wie die Emirate immer noch das nationale Interesse, die eigene Sicherheit und Wirtschaft - daher haben sie ihre Beziehungen zu Israel bislang nicht aufgegeben.

    "Achse des Widerstands": Wie Iran die Situation ausnutzt

    Dies macht sich vor allem ein Akteur zunutze: das iranische Regime, das sich als Ausgangspunkt der "Achse des Widerstandes" gegen Israel und die USA sieht - eine Achse pro-iranischer Staaten und Milizen, die sich vom Iran in den Irak, von Jemen bis Syrien und in den Libanon zieht. Auf dem arabisch-muslimischen Sondergipfel in Riad lehnte Teheran anders als die arabischen Länder die Zwei-Staaten-Lösung ab. Irans verbündete Milizen haben in den vergangenen vier Wochen mehr als siebzig Mal mit Drohnen und Raketen US-Militärstützpunkte in Syrien und Irak angegriffen.
    Wer die Kluft verstehen will, die zwischen Irans Verbündeten und Amerikas Verbündeten im Mittleren Osten klafft, muss in diesen Tagen den Grenzübergang Trebeel besuchen, zwischen Jordanien und Irak. Seit Wochen haben Hunderte pro-iranische Milizen ihn besetzt, immer wieder blockieren sie Öllaster mit irakischem Öl für Jordanien. "Der Weg nach Gaza führt durch Jordanien, lasst uns durch" rufen sie.
    Ihre Präsenz ist eine Machtdemonstration Irans. Eine Drohung, dass das iranische Regime jederzeit US-Verbündete in der Region infiltrieren - und so auch den Westen unter Druck setzen kann.

    Ringen um eine neue Weltordnung
    :Wie der Krieg in Nahost die Welt spaltet

    Rund um die Welt beschäftigt der Gaza-Krieg die Menschen. Die Wucht der Reaktionen, vor allem im globalen Süden, lässt vermuten, dass mehr dahintersteckt, als das Leid in Nahost.
    von Johannes Hano, Singapur
    Pro-palästinensische Demonstranten in Kolkata, Indien
    Analyse
    Golineh Atai ist Leiterin des ZDF-Auslandsstudios Kairo.

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