Brasilien: Warum sich Wähler wie Fußballfans verhalten

    Interview

    Brasilien nach Kongress-Sturm:Warum sich Wähler wie Fußballfans verhalten

    |

    Vor einem Jahr haben Bolsonaro-Anhänger Parlament und Präsidentenpalast gestürmt. Ein Politikberater über Polarisierung und warum sich Brasiliens Wähler wie Fußballfans verhalten.

    Bolsonaro-Anhänger vor dem brasilianischen Kongress.
    Anhänger des abgewählten Präsidenten Bolsonaro stürmen am 8. Januar 2023 den Kongress in Brasilia.
    Quelle: AP

    ZDFheute: Wie blickt die brasilianische Gesellschaft auf die Angriffe vom 8. Januar 2023?
    Thomas Traumann: Die große Mehrheit der Brasilianer verurteilt, was am 8. Januar geschehen ist - selbst unter den Wählern Bolsonaros. Das ist interessant, denn wenn wir uns die Reaktionen in den USA nach dem Angriff auf das Kapitol am 6. Januar 2021 anschauen, sehen wir, dass die Ablehnung mit der Zeit nachgelassen hat, dass das Geschehene relativiert wurde. In Brasilien passiert das nicht und das ist eine gute Nachricht. Das dürfte daran liegen, dass die Täter sehr schnell festgenommen und verurteilt wurden.

    Sturm auf demokratische Institutionen und die Folgen



    ZDFheute: Trotzdem ist die Unterstützung für Bolsonaro weiter groß, obwohl er als "geistiger Urheber" des Putschversuchs gilt.
    Traumann: Die Anhänger Bolsonaros glauben nicht, dass er persönlich etwas mit den Angriffen zu tun hatte. Aktuelle Studien zeigen, dass ein Jahr nach den Wahlen das Ergebnis bei einer Wahl zwischen Lula und Bolsonaro ganz genauso ausfallen würde wie 2022. In der Zwischenzeit hat Bolsonaro seine politischen Rechte verloren, es gab einen Skandal um Staatsgeschenke (die Bolsonaro mutmaßlich für sich behalten hat), es gab die Angriffe vom 8. Januar. Und dennoch würde fast die Hälfte der Brasilianer Bolsonaro erneut ihre Stimme geben.

    Der brasilianische Politikanalyst Thomas Trauman
    Quelle: privat

    ... ist ein brasilianischer Politikberater, Journalist und Autor zahlreicher Bücher. 2012 bis 2015 war er Sprecher bzw. Kommunikationsminister der Regierung Dilma Rousseff. Zuletzt hat Traumann ein Buch über die politische Polarisierung in Brasilien veröffentlicht.

    ZDFheute: Warum ist das so?
    Traumann: Weil die politischen Affinitäten zum Teil der Identität der Menschen geworden sind. Wähler verhalten sich wie Fußballfans: Dein Team kann verlieren, trotzdem wirst du es weiter unterstützen.

    Wenn du dich als bedingungsloser Fan oder Gegner einer Partei verstehst, wird diese Identifizierung anhalten, egal was passiert.

    ZDFheute: Wie kann diese Spaltung überwunden werden?
    Traumann: Die politische Polarisierung hat in Brasilien ein derart hohes Level erreicht, dass sie nicht mehr allein in der Hauptstadt Brasilia von der politischen Führung gelöst werden kann.

    Die Polarisierung prägt heute Schulen, Beziehungen zwischen Lehrern und Schülern, Lehrern und Eltern.

    Sie zeigt sich in Boykottkampagnen gegen Produkte, wenn die Werbefigur für Lula oder für Bolsonaro steht, in Repressionen gegenüber Mitarbeitern von Unternehmen, weil die für diesen oder jenen Kandidaten gestimmt haben. Sie betrifft die ganze Gesellschaft.
    Nicht ein Gesetz oder ein gemeinsames Foto der Vertreter aus Politik und Justiz lösen das Problem. Die Lösung muss in den Kirchen passieren, in den Schulen, in den Supermärkten - im Alltag der Menschen. Es braucht wieder mehr Toleranz. Dafür gibt es nicht die eine magische Lösung.
    ZDFheute: Zum Jahrestag hat die Regierung zu einem Gedenkakt eingeladen, aber Gouverneure der Opposition wollen nicht teilnehmen ...
    Traumann: Das ist ein großer Fehler der Vertreter der Opposition. Was am 8. Januar 2023 passiert ist, war nicht nur ein Angriff auf die neue Regierung Lulas oder auf eine Partei.

    Es war ein Angriff auf die brasilianische Demokratie.

    Wenn die Opposition nun zulässt, dass Präsident Lula am Montag als einziger Bürge der Demokratie auftritt, begeht sie einen Fehler.

    Brasiliens Präsident
    :Lula ein Jahr im Amt: Mehr Schatten als Licht

    Lula da Silva ist seit einem Jahr Präsident in Brasilien. Seine bisherige Bilanz fällt bisher durchwachsen aus. In den USA und Europa überwiegt die Ernüchterung.
    Tobias Käufer, Rio de Janeiro
    Olaf Scholz und Luiz Inacio Lula da Silva
    ZDFheute: Gibt es eine Lektion, die andere Länder von Brasilien im Umgang mit einem Angriff auf demokratische Institutionen lernen können?
    Traumann: Ich denke nicht, dass Brasilien insgesamt besser dasteht als andere Länder. Aber es gab einen wichtigen Faktor: die Schnelligkeit, mit der die Wahljustiz und die Justiz reagiert und die Verantwortlichen verurteilt haben. Zwar wurden bisher die Personen, die die Angriffe finanziert und damit ermöglicht haben, noch nicht verurteilt.

    Es gab harte Strafen gegen Menschen, die direkt beteiligt waren. Und das setzt ein Zeichen.

    Die Frage ist ja: Wie verhindert man, dass sich so was wie der 8. Januar wiederholt? Der Fall der USA zeigt: Wenn man die Täter nicht verurteilt, sie nur geringe Strafen bekommen und es eine genauso polarisierte Wahl gibt, bei der der Kandidat Trump möglicherweise verliert, dann könnte all das wieder passieren. Um zu verhindern, dass sich so ein Angriff auf die Demokratie wiederholt, muss die Gesellschaft klare Grenzen setzen.
    Das Gespräch führte Anne-Kirstin Berger, ZDF-Studio Rio de Janeiro.
    Brasilien im Rück- und Ausblick
    Brasilien hat ein bewegtes Jahr hinter sich - Präsident Lula da Silva muss ein gespaltenes Land führen, das unter Armut und Kriminalität leidet und den größten Regenwald der Welt beschützen muss.30.12.2022 | 2:32 min

    Mehr zu Brasilien