Rios Copacabana: Arm, schwarz und automatisch verdächtig
Kriminalität in Copacabana:Rio: Arm, schwarz und automatisch verdächtig
von Christoph Röckerath, Rio de Janeiro
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Die Kriminalität in den bei Touristen beliebten Gebieten von Rio de Janeiro ist eskaliert. Die Polizei greift spät aber hart ein - und erntet Kritik für ihre fragwürdigen Methoden.
Die brasilianische Polizei rechtfertigt die Kontrollen mit dem Verweis auf die Kriminalstatistik. (Archivbild)
Quelle: AP/Leo Correa
"Was die machen, ist Quatsch!", schimpft Taxifahrer Mauro Carva, während er versucht, an einer Gruppe Polizisten vorbeizufahren, die die halbe Straße im Stadtviertel Copacabana in Rio de Janeiro blockieren.
Soeben haben die Beamten einen Linienbus gestoppt und ein paar schwarze Jugendliche herausbeordert. Kontrolle. "So etwas bringt nichts für unsere Sicherheit", schimpft Mauro, mit einem verächtlichen Blick auf die Polizisten.
Die Praxis der Polizei, Busse zu stoppen, um vor allem Jugendliche zu kontrollieren, die aus dem armen Norden Rios in die wohlhabenderen südlichen Viertel fahren, ist hoch umstritten. Von "hilflosem Aktionismus" bis zu "offenem Rassismus" ist die Rede.
Hinter der idyllischen Fassade der Copacabana tobt ein Bandenkrieg. Die Bewohner von Rio de Janeiro leiden zunehmend unter Drogenkriminalität und Polizeigewalt.27.10.2022 | 40:22 min
"Racial Profiling" - Verdachtskontrolle aufgrund der Hautfarbe einer Person, ist in Rio Alltag und in Brasilien nicht explizit verboten.
Copacabana: Raubdiebstähle um 25 Prozent gestiegen
Die Polizei rechtfertigt ihr Vorgehen mit dem Verweis auf die Kriminalstatistik. Seit Beginn des Jahres ist die Zahl der Raubdiebstähle in Copacabana im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um 25 Prozent gestiegen.
Anfang Dezember, mit dem Beginn des Hochsommers und der Tourismussaison, gab es nochmals einen Anstieg von Überfällen auf offener Straße. Überwachungsvideos gingen viral, auf denen Gruppen von jungen Männern zu sehen sind, die in aller Öffentlichkeit Passanten ausrauben. Sie reißen Handys, Schmuck und Uhren weg.
Bürgerwehr ruft im Netz zur Selbstjustiz auf
Für einen landesweiten Aufschrei sorgte Anfang Dezember ein Video, das den 67-jährigen Marcelo Benchimol zeigt, der einer Frau zur Hilfe eilt: "Etwa zehn Meter entfernt sah ich, wie ein Mädchen angegriffen wurde. Ich dachte: Entweder ich laufe weg oder ich helfe ihr. Ich habe mich entschieden, zu helfen", sagt er später aus.
Stattdessen wird er selbst gejagt, verprügelt und bewusstlos liegen gelassen, mitten auf einem belebten Boulevard im Viertel Copacabana.
Benchimol, der sein ganzes Leben in Copacabana verbracht hat, ruft zwar zur Besonnenheit auf, doch das Gegenteil geschieht: Über die sozialen Medien erklären zahlreiche Männer, darunter Kampfsportprofis, den Straßenräubern den Krieg, rufen zur Selbstjustiz auf.
Und schon gehen erneut Überwachungsvideos viral. Nun zeigen sie schwarz vermummte "Justicieros", die selbst ernannte Bürgerwehr, die Jagd auf "Verdächtige" macht. Darunter nachweislich unbeteiligte Schüler und Straßenverkäufer.
Stadtverwaltung von Rio reagiert spät
Erst jetzt, als die Gewalt in Rios Vorzeigevierteln eskaliert, reagiert die Stadtverwaltung. Sie erhöht massiv die Polizeipräsenz und verurteilt die Selbstjustiz.
Zunächst scheint das Konzept der Polizei aufzugehen. In den letzten Tagen ist es ruhiger geworden im Viertel Copacabana. Doch der Schein trügt. Die Sicherheit in Rio bleibt fragil und auf wenige Orte beschränkt, weil sich an den strukturellen Ursachen nichts ändert.
Menschrechtsorganisationen: Arme Bevölkerungsgruppen unter Generalverdacht
Die Täter kommen überwiegend aus dem armen Norden Rios und den Favelas, die sich durch das ganze Stadtgebiet ziehen. Millionen von Menschen leben hier in großer Armut, weitgehend auf sich allein gestellt. In den Favelas herrschen Milizen und Drogenbanden, die sich gegenseitig bekriegen.
Ein Kontinent im Griff der Kokain-Kartelle
Vor allem Jugendliche haben kaum Perspektiven. Nur eine Minderheit wird straffällig, aber das reicht aus, um ganze Bevölkerungsgruppen unter Generalverdacht zu stellen, kritisieren immer wieder Menschenrechtsorganisationen.
Sie werfen der Politik Gleichgültigkeit gegenüber den Bewohnern der Armenviertel vor. Erst, wenn dieses alltägliche Elend in Rios Südzone überschwappt, sei es mit der Passivität der Staatsmacht vorbei, zumindest vorübergehend, so lange Touristen in der Stadt sind.
74.930 Vergewaltigungen wurden im vergangenen Jahr in Brasilien gezählt. Die meisten Opfer waren Frauen oder Mädchen, mehr als die Hälfte von ihnen noch Kinder.
Für Arme: Strandbesuch oft einzige Freizeitmöglichkeit
Und so ist auch der Widerstand gegen diese Präventivmaßnahmen groß, denn sie treffen überwiegend die Falschen. Gerade für die Armen ist der Strandbesuch oft die einzige Freizeitmöglichkeit.
Die "Defensoria Pública", eine Art staatliche Schiedsstelle für Menschenrechtsfragen, hat den Obersten Gerichtshof angerufen. Er soll der Polizei verbieten, Minderjährige auf dem Weg an die Strände im Süden Rios aufzuhalten, nur, weil sie arm, schwarz und damit - aus Sicht der Staatsmacht - automatisch verdächtig sind.