Warum Aserbaidschan Bergakarabach angreift

    Von Armeniern bewohnte Region:Warum Aserbaidschan Bergkarabach angreift

    Sebastian Ehm, ZDF-Korrespondent in Moskau
    von Sebastian Ehm
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    Die Lage in der Region ist seit Jahrzehnten hochexplosiv. Aserbaidschan schafft jetzt Fakten und will die Kontrolle über ganz Bergkarabach. Wie verhält sich jetzt Armenien?

    Es begann im Morgengrauen. Kurz nach Sonnenaufgang schlugen die ersten Bomben rund um die Stadt Stepanakert ein. Auf Social-Media-Videos ist Luftalarm und das Einschlagen der Artillerie zu hören. Es dauert nicht lange, bis die Bilder der ersten Verletzten im Internet kursieren, darunter auch Kinder.
    Augenzeugen berichten von heftigem aserbaidschanischem Beschuss. Das Verteidigungsministerium in Baku veröffentlicht wenig später ein Statement. Man führe eine Anti-Terror-Aktion durch, um die militärische armenische Infrastruktur zu neutralisieren. Vorausgegangen seien bewaffnete Anschläge von Armeniern. Doch überprüfen lässt sich das nicht.

    Besorgniserregende Lage in Bergakarabach

    Die Lage in Bergakarabach ist schwer einzuschätzen. Die Region liegt laut UN-Resolutionen aus den Neunzigerjahren auf aserbaidschanischem Territorium, wird jedoch mehrheitlich von Armeniern bewohnt. Bis zu 120.000 sollen es sein.
    Karte: Armenien - Aserbaidschan - Bergkarabach
    Quelle: ZDF

    Aserbaidschan blockiert jedoch seit Monaten den Zugang vom armenischen Staatsgebiet aus. Hilfsgüter und Nahrungsmittel kommen kaum dort an, genauso wenig ist es für Journalisten möglich, sich im von Armeniern bewohnten Gebiet ein Bild der Lage zu machen.
    Marcel Röthig vom Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung in Tiflis meint, die Berichte aus Bergkarabach seien besorgniserregend.

    Jetzt ist man an diesem Punkt angekommen, an dem neun Monate Aushungern dann auch erheblich an Kräften gezehrt haben, sodass einfach auch die Menschen geschwächt sind. Sie sind geschwächt, physisch, sind geschwächt, psychisch und dazu jetzt noch der der Militärschlag obendrauf.

    Marcel Röthig, Friedrich-Ebert-Stiftung

    Es sei, so Röthig, eine Fortsetzung der Politik des maximalen Drucks gegenüber den in Bergkarabach lebenden Armenierinnen und Armeniern, jetzt unter Einsatz militärischer Mittel. Bereits 2020 griff Aserbaidschan die Region an und eroberte große Gebiete zurück, die Armenien seinerseits nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion besetzt hielten.

    Aserbaidschan hat eine hochmoderne Armee

    Die aserbaidschanische Armee war schon damals und ist auch heute den Streitkräften der Bergkarabach-Armenier hochüberlegen. Hochgerüstet von ihrem engen Verbündeten der Türkei verfügt die aserbaidschanische Armee über hochmoderne Streitkräfte, die vor allem wegen ihrer Drohnen überlegen sein dürfte.
    Russland ist eigentlich die Schutzmacht Armeniens. 2020 vermittelte Moskau einen Waffenstillstand, den russische Truppen in der Region überwachen sollen. Doch die blieben am Dienstag untätig.
    Der armenische Premier Nikol Paschinjan hatte sich zuletzt von Russland abgewandt. Seine Frau lieferte öffentlichkeitswirksam Nahrungsmittel in die Ukraine und die armenische Armee hielt gemeinsam mit US-Truppen ein Manöver ab. Der Kreml kritisierte das scharf.

    Es ist durchaus möglich, dass man im Kreml vielleicht darauf spekuliert, dass die Zeit Paschinjan und die Zeit der armenischen Demokratie möglicherweise zu Ende gehen, sodass dann wieder Moskau wohlgesonnene Kräfte zurückkommen würden und Armenien somit wieder mehr in den russischen Orbit abdriftet.

    Marcel Röthig, Friedrich-Ebert-Stiftung

    Droht ein Guerilla-Kampf?

    Ein prorussisches Regime in Armeniens Hauptstadt Eriwan als Ziel Moskaus? Das Land Armenien hält sich aus dem Kampfgeschehen in Bergkarabach bislang heraus. Man hatte in Eriwan zuletzt die aserbaidschanischen Grenzen anerkannt. Doch für die Armenier in Bergkarabach stellt sich mit der Eskalation die Frage, wie es weitergehen soll. Zehntausende Armenier sind dort zuhause.
    mädchen mit fahnen
    Was steckt hinter dem Konflikt?31.05.2023 | 7:00 min
    Das aserbaidschanische Verteidigungsministerium ließ am Nachmittag verlauten, dass auf der Straße Richtung Armenien humanitäre Korridore und Auffangstationen eingerichtet wurden, um eine Evakuierung zu gewährleisten. Fraglich ist, ob die Armenier in Bergkarabach bereit sind, ihre Heimat zu verlassen. Für sie ist Aserbaidschan der Erzfeind, die beiden Völker bekämpfen sich seit Jahrzehnten.

    Wir können davon ausgehen, dass in jedem Haushalt Waffen sind, dass die Menschen kampferprobt sind und dass sie hier möglicherweise in eine Art Guerillakampf eintreten und dass es noch sehr viel länger eine unruhige Region bleiben wird.

    Marcel Röthig, Friedrich-Ebert-Stiftung

    Die kommenden Tage werden zeigen, wohin das Pendel ausschlägt. In Eriwan gerät der armenische Premier Nikol Paschinjan durch Demonstrationen unter Druck. Während Frankreich eine Sondersitzung des UN-Sicherheitsrats initiiert, stellt sich die Frage, wie sich die jeweilig Verbündeten in der Region verhalten.
    Die Türkei steht fest an der Seite Aserbaidschans, doch Iran hat schon angekündigt, dass es Angriffe Bakus auf das armenische Kernland nicht dulden wird.  
    Sebastian Ehm ist Korrespondent für Russland, den Kaukasus und Zentralasien

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