"Russland war schockiert": Längste Menschenkette der Welt

    Interview

    Der "Baltische Weg":"Russland war schockiert"

    |

    Vor 35 Jahren demonstrierten Litauer, Letten und Esten mit der längsten Menschenkette der Geschichte gegen die sowjetischen Besatzer. Ein litauischer Künstler erinnert sich.

    Veranstaltung „Baltischer Weg“, 23. August 1989. Am 50. Jahrestag der Unterzeichnung des Nichtangriffspakts zwischen Deutschland und der Sowjetunion schlossen sich Menschen in Litauen, Lettland und Estland zusammen, um eine Menschenkette von Vilnius nach Tallin zu bilden .
    Heute vor 35 Jahren bildete sich in Estland, Lettland und Litauen eine Kette aus hunderttausenden Menschen. Sie protestierten für die Unabhängigkeit von der Sowjetunion. 23.08.2024 | 1:34 min
    Der Protest fand an einem historischen Jahrestag statt: am 50. Jahrestag der Unterzeichnung des Hitler-Stalin-Paktes (23.08.1939), der die Balten für weitere Dekaden ihrer Souveränität beraubt hatte.
    Nun standen sie am 30. August 1989 von Tallinn bis nach Vilnius, auf einer Strecke von 650 Kilometer - etwa zwei Millionen Menschen. Friedlich - und vereint wie nie zuvor. Das erzählt der litauische Künstler Tadas Gutauskas, der damals dabei war. Heute gilt in Litauen, Lettland und Estland die Erinnerung an "Baltischen Weg" auch als eine Mahnung.
    ZDFheute: Sie nahmen vor 35 Jahren an dem "Baltischen Weg" teil. Wie war die Stimmung damals?
    Tadas Gutauskas: Wir haben damals nicht einmal verstanden, was es in Wirklichkeit war. Wir sind nur zur Demonstration gekommen, um unsere Haltung und unseren Wunsch nach Unabhängigkeit zu manifestieren. Aber wir haben noch nicht ernsthaft erkannt, wie gefährlich das war. Jetzt verstehe ich es.

    Tadas Gutauskas, geb. 1970 in Vilnius, ist ein litauischer Bildhauer und Maler. Er hat unter anderem das in Litauen bekannte Denkmal "Der Weg der Freiheit" geschaffen, das der Wiederherstellung des Staates Litauen gewidmet ist und an den "Baltischen Weg" erinnert.

    Die Litauer waren damals geeint. Sie standen zusammen und hielten sich an den Händen. Es war ein sehr starkes Gefühl. Wenn man zusammen ist, gibt es keinen Platz für Angst. Zusammen waren wir frei und innerlich stark. Denn man kann nicht gegen friedliche, unbewaffnete Menschen kämpfen, die nur zusammenstehen. Man kann doch nicht alle ins Gefängnis bringen. Russland war schockiert nach dieser Demonstration.
    Luftaufnahme von Tallinn
    Rund ein Viertel der Bevölkerung Estlands ist russischer Herkunft. Auch 33 Jahre nach der Unabhängigkeit geht der Annäherungsprozess nur langsam voran.25.04.2024 | 4:32 min
    ZDFheute: Waren Sie von der Dimension der Menschenkette überrascht?
    Gutauskas: Einige Leute haben gesagt, dass niemand oder nur wenige zu dieser Demonstration kommen würden. Ich saß da und machte Witze, wie es junge Leute eben tun. Aber dann sah ich plötzlich einige Nachbarn, einige Freunde aus meiner Schule. Und plötzlich sah ich Hunderttausende Menschen um mich herum. Am Ende gingen fast zwei Millionen Menschen auf die Straße und hielten sich in drei baltischen Staaten an den Händen. Es war also großartig. Ich werde dieses Gefühl nie vergessen.
    Surfer in Estland
    Die Heimatliebe im Baltikum ist groß. Doch der Gedanke an eine Wiederholung der russischen Besatzung ist beängstigend, denn ihre Unabhängigkeit möchten sie nicht noch einmal verlieren. 10.08.2023 | 32:52 min
    ZDFheute: Klingt nach einer logistischen Meisterleistung. Wie war es möglich, das zu organisieren?
    Gutauskas: Das Radio war einer der wichtigsten Kanäle, weil es jeder hatte. Es gab ja keine Emails, keine sozialen Medien. Außerdem hat jeder über die Demonstration gesprochen. In den Geschäften, auf der Straße, auf den Plätzen.
    Es gab Volksfronten in Lettland und Estland und "Sąjūdis" in Litauen. Es waren Organisationen, die für die Freiheit kämpften, die sowohl unsere Demonstrationen als auch unser Verhalten koordinierten. Dadurch hatten sie in jeder kleinen Stadt, sogar in den Dörfern, eine Person, die dafür verantwortlich war, alle einzuladen.
    "Pakt der Diktatoren - Wie Hitler und Stalin den Weg in den Krieg planten": Nahaufnahme Von Adolf Hitler in Uniform vor einer Bergkulisse.
    Nazideutschland und die Sowjetunion sind ideologische Gegner und politische Rivalen. Dennoch kommt es im August 1939 zum Hitler-Stalin-Pakt. Was treibt die beiden Diktatoren zum Handschlag?14.03.2021 | 43:27 min
    ZDFheute: Was hat Litauer, Letten und Esten dazu bewegt, die "Baltische Kette" zu schaffen?
    Gutauskas: Wir sind der Sowjetunion nie beigetreten. Wir wurden besetzt. Nach 50 Jahren der Besatzung spürten wir den Wind der Demokratie, den Gorbatschow in der Sowjetunion auslöste. Die Menschen fingen an, über ihre eigene Geschichte, über ihre Sprache zu sprechen. Die Menschen wurden immer offener und hatten weniger Angst vor den Sowjets. Und jeden Tag, jeden Monat, wuchs die Leidenschaft für die Freiheit. Jeder fühlte sich in diesen Tagen sehr stark.
    Teil der Menschenkette durch die baltischen Republiken 1989
    Vor 35 Jahren demonstrierte eine 600 Kilometer lange Menschenkette für die Unabhängigkeit. In Vilnius geben heute Künstler*innen aus Litauen, Lettland und Estland ein Konzert.23.08.2024 | 2:30 min
    ZDFheute: Welche Bedeutung hat heute der Jahrestag für die Balten?
    Gutauskas: Wir waren nie so vereint wie damals. Und heute, in dieser geopolitischen Situation, in der wir Krieg gegen das größte Übel der Welt führen - Russland -, sieht jeder natürlich die Gefahr. Jeder versteht, dass die Freiheit sehr zerbrechlich ist. Sie ist nicht für immer. Wir müssen gemeinsam stark sein, wir müssen die Ukraine unterstützen, wir müssen uns gegenseitig unterstützen. Dann werden wir gewinnen.
    Das Interview führte Roman Krysztofiak aus dem ZDF-Studio Warschau.
    Rechts Russland, links die Ostsee - Das Baltikum in der NATO
    Der Geographie kann man nicht entkommen. Estland, Lettland und Litauen liegen eingezwängt zwischen Ostsee und Russland im Schatten des Großen Bären.18.03.2024 | 28:20 min

    Mehr aus dem Baltikum