Stadt droht zu fallen:Awdijiwka: Was ein Sieg Moskaus heißen würde
von Christian Mölling und András Rácz
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Die russische Armee kreist Awdijiwka zunehmend ein, der Fall der Stadt wird wahrscheinlicher. Für die Ukraine wäre der Verlust ein Schlag, der Kreml würde einen Sieg aufbauschen.
In den letzten Wochen ist es den russischen Streitkräften gelungen, in Awdijiwka weiter vorzurücken. Sie kamen sowohl westlich-südwestlich der Stadt bei Wodiane voran als auch nordwestlich bei Stepove - dort überquerten sie die Eisenbahnlinie, die eine wichtige ukrainische Verteidigungsstellung bildete. Außerdem gab es kleinere Vorstöße in die Ruinen der Stadt aus südöstlicher Richtung.
Gegenwärtig scheint sich die russische Zangenbewegung allmählich um Awdijiwka zu schließen. Natürlich lässt sich nicht mit Sicherheit sagen, ob und vor allem wann Awdijiwka fallen wird. Aber die Wahrscheinlichkeit dafür steigt derzeit. Was wären die möglichen Auswirkungen?
Cherson, Saporischschja und Awdijiwka liegen an der Grenze zu den russisch besetzten Gebieten (Stand: 16.12.2023).
Quelle: ZDF
Russische Führung unbeeindruckt von Verlusten
Nach ukrainischen und westlichen Berichten war die Schlacht um Awdijiwka für die russische Armee extrem verlustreich. Demnach sollen rund um Awdijiwka etwa 18.000 bis 20.000 Soldaten gefallen oder verwundet worden sein, zudem habe die russische Armee etwa 250 gepanzerte Fahrzeuge - darunter Panzer, Schützenpanzer und gepanzerte Transportfahrzeuge - verloren.
Ungeachtet der Verluste drängt das russische Kommando jedoch weiterhin darauf, die Stadt einzunehmen.
Kreml-Offensive im Informationskrieg wahrscheinlich
Die Nachricht einer Einnahme der Stadt würde den strategischen Nutzen bei weitem übersteigen. Die russische Armee belagert Awdijiwka seit Beginn der umfassenden Eskalation mit unterschiedlicher Intensität und hat dort vor allem seit Oktober 2023 furchtbare Verluste erlitten.
Sollte es also gelingen, die Stadt einzunehmen, werden die russischen Staatsmedien wahrscheinlich versuchen, dies als großen, strategischen Sieg darzustellen - auch wenn es sich nur um eine kleine Stadt handelt - in einer strategisch nicht allzu wichtigen Lage.
Für die Ukraine hingegen wäre die Nachricht des Verlusts von Awdijiwka ein Schlag im öffentlichen Diskurs - vor allem in den westlichen Medien.
Quelle: DGAP
... leitet das Programm "Europas Zukunft" für die Bertelsmann Stiftung in Berlin. Er forscht und publiziert seit über 20 Jahren zu den Themenkomplexen Sicherheit und Verteidigung, Rüstung und Technologie, Stabilisierung und Krisenmanagement. Für ZDFheute analysiert er regelmäßig die militärischen Entwicklungen im Ukraine-Konflikt.
Quelle: DGAP
... ist Associate Fellow im Programm Sicherheit und Verteidigung der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) in Berlin. Er forscht und publiziert zu Streitkräften in Osteuropa und Russland und hybrider Kriegsführung.
Ukraine muss sich geordnet zurückziehen
Die Ukraine selbst dürfte mit dem Verlust umgehen können: Das lässt sich aus den Erfahrungen schließen, die die Ukraine mit der medialen Behandlung früherer Belagerungen gemacht hat, die ebenfalls mit dem Verlust der betreffenden Stadt endeten (wie Mariupol, Sewerodonezk, Lyssytschansk und zuletzt Bachmut). In den vorangegangenen Fällen gehörte es zu den Elementen der Krisenkommunikation, den langen, heldenhaften Widerstand, die großen Verluste der Russen sowie die militärische Notwendigkeit der Evakuierung der Verteidiger zu betonen.
Dies gilt natürlich nur, wenn die Ukraine wieder diszipliniert und flexibel genug ist, ihre Truppen rechtzeitig zurückzuziehen, bevor die Russen die Stadt vollständig eingekreist haben. Sollten bedeutende ukrainische Truppen eingekesselt werden, wäre das nicht nur aus militärischer Sicht eine Katastrophe, sondern auch im Hinblick auf die öffentliche Unterstützung für die Armee und ihre Führung.
Donezk außer Reichweite - aber kein Zusammenbruch der Front
Aus rein militärischer Sicht wird durch die Einnahme der Stadt die Frontlinie verkürzt und die ukrainischen Streitkräfte werden weiter von Donezk weggedrängt. Sobald Awdijiwka in russische Hände fällt, wird die leichte und mittlere Artillerie der Ukraine weniger Möglichkeiten haben, die militärischen Ziele in der besetzten Stadt Donezk zu erreichen.
Ansonsten hat die Stadt aber keine große Bedeutung mehr. Die ukrainische Frontlinie wird sicherlich nicht zusammenbrechen, da es auch westlich des Kessels um Awdijiwka gut vorbereitete Verteidigungsstellungen gibt. Außerdem ist das Gelände dort für jegliche Offensivmanöver äußerst kompliziert.
Alles in allem ist das wahrscheinlichste Szenario, dass die russischen Streitkräfte, wenn Awdijiwka in russische Hände fällt, ihren Vormarsch hier praktisch für eine Weile stoppen werden, um ihre Gewinne zu konsolidieren und die Truppen ausruhen und sich ein wenig erholen zu lassen. Daher ist es wenig wahrscheinlich, dass Russland von Awdijiwka aus einen Blitzkrieg nach Westen führen wird. Die Positionskämpfe werden weitergehen.
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Seit Februar 2022 führt Russland einen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Kiew hat eine Gegenoffensive gestartet, die Kämpfe dauern an. News und Hintergründe im Ticker.