Stiftung warnt: Immer mehr Kinder leben auf der Straße

    Stiftung warnt:Immer mehr Kinder leben auf der Straße

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    Auf der Parkbank pennen, kein Kontakt zur Familie, Geldnot: Nach Einschätzung einer Stiftung leben immer mehr junge Menschen auf der Straße. Die Situation sei "dramatisch".

    Obdachlose Frau in der Frankfurter Innenstadt, Passanten laufen an der Frau und ihrem Pappbecher in dem sie Spenden sammelt vorbei.
    Nach Einschätzung der Stiftung "Off Road Kids" leben immer mehr Minderjährige und junge Erwachsene in Deutschland auf der Straße. (Symbolbild)
    Quelle: picture alliance / Daniel Kubirski

    Auf einer Parkbank oder unter einer Brücke die Nacht verbringen. Wochenlang mal bei dem einen, mal bei dem anderen auf dem Sofa schlafen. Keinen Kontakt zu den Eltern haben, Geldnot, im schlimmsten Fall Drogenkonsum und Prostitution: Wenn Jugendliche auf der Straße landen, wird es für sie schwer, ihr Leben zu meistern.

    Sie wollen ja nicht auf der Straße leben. Sie wollen dazugehören. Vielleicht wünschen sie sich auch einfach ein Leben ohne Misshandlung und ohne Schläge

    Markus Seidel, Gründer "Off Road Kids"

    Markus Seidel hat vor 30 Jahren die Stiftung "Off Road Kids" gegründet. Er geht mit Blick auf die Wohnungslosenstatistik bundesweit von bis zu 38.000 Minderjährigen und jungen Erwachsenen unter 27 Jahren in offener oder versteckter Wohnungslosigkeit aus - Tendenz steigend.

    Stiftung: Beratungszahlen seit Corona vervierfacht

    Als eine Ursache sieht der Vorstandssprecher der Stiftung auch die Corona-Pandemie. Seitdem hätten sich die Beratungszahlen vervierfacht. "In den Familien, in denen es vorher schon gebrodelt hat, brodelt es jetzt richtig", sagt er. Zudem gebe es immer weniger bezahlbaren Wohnraum. Die jungen Menschen landeten entsprechend schneller auf der Straße.
    Außerdem trauten sich mehr junge Menschen, aus der Situation, in der sie sich befinden, herauszugehen. "Hier hat Social Media einiges bewegt", so Seidel. Früher seien es eher die unternehmenlustigen Jugendlichen mit familiären Problemen gewesen, die ihr Zuhause verlassen hätten. "Heute sind das auch die depressiven und sogar suizidalen Kinder."
    Seidel berichtet, auch die Anfragen über die niedrigschwellige digitale Beratung seiner Stiftung habe zugenommen. Die jungen Menschen seien häufiger als früher verdeckt wohnungslos, übernachteten also bei wechselnden Personen auf dem Sofa und meldeten sich dann bei der virtuellen Streetwork-Station, um Hilfe zu bekommen.

    Die Idee zu der Initiative "Off Road Kids" kam Markus Seidel, als er 1993 als Journalist erlebte, wie viele Jugendliche in Deutschland auf der Straße zu Hause sind. "Ich dachte, das kann doch in einem G7-Staat nicht möglich sein. Aber das war es. Und ist es leider immer noch."

    Die Stiftung unterhält Streetwork-Stationen in Berlin, Hamburg, Dortmund, Köln und Frankfurt. Nach eigenen Angaben vermittelte sie seit 1993 rund 10.000 Jugendlichen ein Dach über dem Kopf.

    Straßenkinder kommen aus allen Schichten

    "Bei Jugendlichen, die auf der Straße leben, stecken immer familiäre Probleme dahinter", sagt Ines Fornacon, die seit mehr als 20 Jahren als Diplompädagogin bei "Off Road Kids" in Berlin arbeitet. Die Beratungsstelle hat ihren Sitz in der Berliner S-Bahnstation Bellevue.
    Misshandlung, Alkoholprobleme, Trennungen: "So etwas kann überall vorkommen, ob Professoren- oder Arbeitslosenfamilie", sagt die 52-Jährige. Die jungen Menschen kämen aus allen gesellschaftlichen Schichten.

    Die wenigsten sind als Straßenkinder erkennbar. Die meisten sehen aus wie ganz normale Jugendliche.

    Ines Fornacon, Diplompädagogin bei "Off Road Kids"

    "Meist müssen wir zuerst die akuten Probleme lösen - vom fehlenden Ausweis bis hin zum Schlafplatz für die kommende Nacht", so Fornacon. "Das wichtigste ist, nichts gegen den Willen der Jugendlichen zu unternehmen, damit sie Vertrauen entwickeln."
    Herstellung von kleinen, bunten Holz-Hütten für Obdachlose in Berlin.
    Der Verein "Little Homes" baut winzige Holz-Hütten für Obdachlose.21.01.2023 | 4:38 min

    Nicht alle Kinder wollen Hilfe annehmen

    Aber nicht immer wollen Jugendliche die Hilfe annehmen. Christian Westbomke ist Bereichsleiter der Jugendhilfe beim Sozialdienst katholischer Frauen (SkF). Er erklärt: "Es bringt nichts, mit harter Hand durchsetzen zu wollen, dass sie sich an das Jugendamt wendet".
    Man müsse in so einem Fall erst mal "eine Beziehung herstellen" - obwohl das "eine rechtliche Grauzone" sei.

    Jugendhilfe: "Ein großer Teil kommt nicht mehr mit"

    Streetwork-Experte Seidel betont: "Die Straßenkinderszenen sind leider aus Deutschland nicht verschwunden." Gerade große Städte wie Berlin oder Köln hätten zur Zeit einen großen Zulauf: "Das ist wie ein Magnetismus."
    Anders als noch vor 20 Jahren gebe es aber etwa in Berlin keine Möglichkeit, in besetzten Häusern unterzukommen. Eher spielten sich die Treffen auf offenen Plätzen ab. Seidel erzählt, wie er etwa auch im schweizerischen Genf beobachtet habe, wie obdachlose Jugendlichen mitten auf offener Straße zelten.

    Es muss jetzt etwas geschehen, sonst gibt es Aufruhr auf der Straße.

    Markus Seidel, Gründer "Off Road Kids"

    Ähnlich schätzt auch Christian Westbomke die Situation ein: "Es spricht einiges dafür, da kann man nicht dranvorbeisehen: Die Gesellschaft driftet immer mehr auseinander. Ein großer Teil kommt nicht mehr mit."

    Jugendliche, die aus allen Hilfsangeboten rausfallen, bleiben nicht in ihrem Dorf. Die landen irgendwann in Berlin.

    Christian Westbomke, Jugendhilfe beim Sozialdienst katholischer Frauen (SkF)

    Quelle: Nina Schmedding, KNA

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