EM und Fankultur: Von "Teilzeit-Fans" und Fußball-Muffeln

    Interview

    Fankultur während EM :Von "Teilzeit-Fans" und Fußball-Muffeln

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    Eine EM hat die Kraft, Millionen zu Fans werden zu lassen. Laut Fanforscher Lange sind diese "Event-Fans" die ersten, die ihrer Mannschaft bei frühem Turnier-Aus den Rücken kehren.

    Deutsche Fans feiern im Vorfeld des Fanmarsches.
    Deutsche Fans bei der Fußball-EM 2024
    Quelle: dpa

    ZDFheute: Während der EM wurden ja viele Menschen ganz plötzlich zu Fußball-Fans und gehen zum Public Viewing. Warum fiebern jetzt plötzlich so viele beim Fußball mit?
    Harald Lange: In dem Zusammenhang spricht man manchmal ein bisschen despektierlich von sogenannten Event-Fans oder Teilzeit-Fans. Das sind diejenigen, die dann nur zu solchen sportlichen Großereignissen den Fernseher anschalten, zum Public Viewing gehen oder sogar Karten ergattern und dann ins Stadion kommen.
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    Das sind Fans, die jetzt einfach von diesem Ereignis angezogen werden, und die wollen sich in allererster Linie unterhalten lassen.

    Diese Event-Fans sind dann auch die ersten, die der Mannschaft den Rücken kehren, wenn sie früh aus einem Turnier ausscheidet oder wenn sie nicht so gut spielt.
    ZDFheute: Wieso schauen so viele Menschen EM, die sonst nichts mit Fußball zu tun haben?
    Lange: Die sind deshalb dabei, weil man sich diesen Phänomen nicht wirklich entziehen kann, und weil es jetzt einfach auch zum Umgangston dazugehört, dass man ein paar Sätze zum Fußball verlieren können muss.

    Fanforscher Harald Lange vor einem Bücherregal.
    Quelle: ZDF

    Prof. Dr. Harald Lange, 55, ist der Leiter der Fan- und Fußballforschung am Institut für Sportwissenschaft der Julius-Maximilians-Universität in Würzburg. Er hat mehr als 50 Bücher veröffentlicht.

    Außerdem, das ist auch noch ein nicht zu unterschätzender Faktor, inzwischen sind Fußballspiele derart durchorganisiert im Sinne von Entertainment, dass du auch ein Stadionerlebnis haben kannst, ohne dass du dich für das Fußballspiel an sich interessierst.
    Man kann sogar sagen, dass die sich zum Teil gar nicht wirklich für Fußball interessieren, sondern für das Event. Da möchte man dabei sein, da möchte man dann im Freundeskreis darüber reden, was man da erlebt hat.

    Man ist auch neugierig auf die Erfahrungen anderer. Das verselbstständigt sich also dann auch ein Stück weit.

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    ZDFheute: In Deutschland gibt es ja auch außerhalb dieses Großereignisses eine große Fanszene. Warum ist die Fankultur so groß?
    Lange: Die Fankultur ist historisch und kulturell gewachsen. Man darf sich den Fußball nicht als ahistorisches Phänomen vorstellen, was quasi irgendeine Unterhaltungsindustrie gerade kreiert; sondern das ist etwas, was in Deutschland schon über 100 Jahre TradiGon hat, was in den Dörfern, StadNeilen, in den Städten und Regionen irgendwann mal entstanden ist und sich dort entwickelt hat.
    ZDFheute: Wie wächst man denn in die Fanwelt hinein?
    Lange: Die Sozialisation des Fanwerdens passiert in der frühen Kindheit. Meistens im Grundschulalter schließt man sich irgendeinem Verein an, weil das dann in der Schulklasse Thema ist.
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    Meistens ist es dann der Verein, der in dieser Zeit gerade erfolgreich spielt. Und wenn du dich einmal einem Verein angeschlossen hast, dann gilt es in der Fankultur als verpönt, irgendwann mal wieder zu wechseln.

    Also den wahren Fan erkennt man daran, dass er sich einmal gebunden hat an einen Club und dann sein Leben lang treu bleibt.

    ZDFheute: Es gibt ja Leute, die den Fußball und dessen Fankultur komplett ablehnen. Was genau stört diese Menschen an Fußball?
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    Lange: Wenn man jetzt so eine Aversion gegen Fußball hegt, dann gibt es verschiedene Gründe, die da immer so ein bisschen dominieren. Der Klassiker ist, dass man den Fußball als maßlos überbewertet ansieht und ihn deshalb ablehnt. Beispielsweise weil Fußballspieler und diejenigen, die da drumherum situiert sind, unfassbar viel Geld verdienen.
    Das hat auch etwas mit Sozialneid, wenn man so will, zu tun, dass es ja völlig unangemessen ist, dass jemand, der so ein bisschen Fußball spielen kann, dafür Millionen bekommt. Ein zweiter wichtiger Punkt ist, dass einem dieses Thema so aufgedrängt wird.
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    Jede Fernsehsendung, jede Gelegenheit ist irgendwie verklebt von Fußball.

    Und dann wird einem das so ein bisschen überdrüssig und man denkt sich, naja, wir müssten uns eigentlich auch um viel wichtigere Themen kümmern. Das ist vielleicht auch so eine Art Schutzreaktion, weil man da protestiert, sagt, "nee, das Thema kann nicht so wichtig sein, dass die ganze Gesellschaft vier Wochen lang nonstop über Fußball redet".
    Das Interview führte Laura Meyer.

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