Anne-Frank-Gedenktag: Zeitzeugin erinnert an ihr Leben
Interview
Anne-Frank-Gedenktag:"Die Leute werden zu Antisemitimus ermuntert"
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Anne Frank und Ruth Winkelmann teilen die gleichen Lebensanfänge. Winkelmann berichtet als Zeitzeugin vom Holocaust und findet mahnende Worte an die heutige Gesellschaft.
Mit einem Aktionstag erinnern bundesweit 90.000 Schüler an eines der bekanntesten Opfer des Holocaust. Viele Schulen nehmen das zum Anlass, vor Antisemitismus zu warnen.12.06.2024 | 1:33 min
Ruth Winkelmann erzählt von ihrer acht Jahre jüngeren Schwester. Wie sie mit ihr auf dem Rücken in der Havel geschwommen ist. Es klingt so, als sei das eine gemeinsame Erinnerung - dabei ist es die Erinnerung, die gegen das Vergessen kämpft. Ihre Schwester Esther ist lange tot - Ruth Winkelmann überlebte als einzige ihrer Großfamilie den Krieg und die Naziherrschaft. Die Jüdin war versteckt in einer Berliner Kleingartensiedlung, entkam so der Deportation durch die Nationalsozialisten.
Um den Hals trägt sie eine Kette mit Davidstern als Zeichen ihres jüdischen Glaubens. Die 95-jährige sagt, sie sehe nicht mehr so gut und sei heute etwas müde. Aber als sie zu erzählen anfängt, ist sie ganz klar.
ZDFheute: Wir haben jetzt hier den Anne-Frank-Gedenktag in der Schule erlebt. Was bedeutet Ihnen das, dass die Schülerinnen und Schüler hier sowas veranstalten?
Ruth Winkelmann: Ich versuche, mich zurückzuerinnern, wie es war. Denn ich bin im gleichen Alter beinahe, als Anne Frank damals war. Sie ist ein Jahr jünger als ich. Und dadurch berührt mich das natürlich ganz besonders, da ich selbst auch versteckt war.
... wurde am 12. Juni 1929 in Frankfurt/Main geboren. 1933 emigrierte ihre Familie in die Niederlande. 1942 sahen sich die Franks wie tausende andere jüdische Menschen zum Untertauchen gezwungen, um der Deportation in die Konzentrationslager zu entgehen. Im August 1944 flog das Versteck in einem Hinterhaus in der Amsterdamer Prinsengracht 263 durch Verrat auf. Anne Frank wurde verhaftet und zunächst ins Konzentrationslager Auschwitz, dann ins Lager Bergen-Belsen deportiert. Dort starb sie im Frühjahr 1945 an Typhus. Ihr Vater überlebte den Holocaust und veröffentlichte das Tagebuch 1947.
... wird seit 2017 vom Anne-Frank-Zentrum organisiert. Es feiert in diesem Jahr sein 30-jähriges Bestehen und ist die deutsche Partnerorganisation des Amsterdamer Anne-Frank-Hauses. Bundesweit haben am Mittwoch 590 Schulen an das Holocaust-Opfer Anne Frank (1929-1945) erinnert. Anlässlich ihres 95. Geburtstages am 12. Juni beschäftigten sich rund 90.000 Schülerinnen und Schüler mit der Geschichte des im Alter von 15 Jahren im Konzentrationslager Bergen-Belsen gestorbenen Mädchens. Wie das Anne-Frank-Zentrum in Berlin mitteilte, thematisierten viele Schulen die NS-Geschichte am eigenen Schulort.
Quelle: dpa
ZDFheute: Wie wichtig ist gerade in der heutigen Zeit Erinnerung?
Winkelmann: Erinnerung ist ganz, ganz wichtig. In der heutigen Zeit ganz besonders. Ich mache das seit 2002, dass ich Vorträge halte oder Lesungen. Es ist vor allen Dingen wichtig, dass man die Erinnerung behält. Es ist eine Geschichtssache.
ZDFheute: Antisemitische Vorfälle haben in letzter Zeit zugenommen. Juden und Jüdinnen fühlen sich nicht mehr sicher. Was macht das mit Ihnen, wenn Sie das hören, dass diese Fälle von Antisemitismus so zunehmen?
Winkelmann: In meiner Umgebung Gott sei Dank nicht. Aber es beunruhigt mich natürlich sehr. Die Wahlen, die wir hatten, die Europawahlen, haben das Ganze auch noch ein bisschen stärker gemacht. Die Leute wurden einfach ermuntert, wieder Antisemitismus darzulegen oder aufzutreten in der Art. Ich hoffe, es wird sich auch wieder beruhigen.
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ZDFheute: Sie haben in der Veranstaltung gesagt, dass Toleranz so wichtig ist. Warum ist das so, mit Ihren Worten?
Winkelmann: Meinungen töten nicht.
Es ist egal, ob in Glaubenssachen, in Rassensachen oder in Hautfarbe. Wenn wir tolerant sind, dann können wir doch alle viel besser miteinander leben. Das ist der Oberbegriff der Demokratie, tolerant zu sein.
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ZDFheute: Anne Frank und Sie - welche Verbindung gibt es?
Winkelmann: Einmal den Glauben und die gleiche Situation. Sie ist bloß geschnappt worden und ich habe überlebt. Ich weiß nicht, wie viele Engel da oben waren, die mich gerettet haben.
Wahrscheinlich habe ich das verdient und muss heute für viele, viele Vorlesungen machen und erzählen, wie es wirklich war. Das ist das Einzige, wo ich mich rechtfertigen kann, dass ich überlebt habe. Da darf ich nicht müde werden. Solange meine Sprache und mein Gedächtnis da sind, werde ich das machen. Schon mit dem Gedanken, für andere zu sprechen, die es eben nicht konnten.
Das Interview führte Henriette de Mazière aus dem Landesstudio Berlin.