Ausgetrickst – Ampel ohne Geld und Zukunft?

Fakten-Box | 23. November 2023

• Das Urteil

  

  Am Mittwoch vergangener Woche hat das Bundesverfassungsgericht mit seinem Urteil zum Zweiten Nachtragshaushaltsgesetz 2021 die Bundesregierung in eine Haushaltskrise gestürzt. Geld, das für wirtschafts- und sozialpolitische Vorhaben bereits verplant ist, steht damit nicht mehr zur Verfügung. Die Finanzierung von Zusagen der Bundesregierung ist gefährdet. Die abschließende Beratung des Haushaltes 2024, die für die kommende Sitzungswoche des Bundestages angesetzt war, ist abgesagt worden.
  
  Was war passiert? Im Dezember 2021 präsentierte die damals gerade an die Regierung gekommene Ampel-Koalition dem Bundestag einen Nachtragshaushalt. Damit sollten 60 Milliarden Euro, die eigentlich für die Bewältigung der Corona-Krise gebunden, aber nicht benötigt worden waren, umgewidmet werden, um sie in späteren Jahren für Klimaschutz und die Modernisierung der Wirtschaft auszugeben.
  
  Die Opposition kritisierte damals das Manöver als „Trickserei“ und sprach von einer verfassungswidrigen Umgehung der gesetzlichen Schuldenbremse. Die Unionsfraktion kündigte Klage vor dem Bundesverfassungsgericht an. Dessen ungeachtet beschlossen die Fraktionen von SPD, Grünen und FDP den Nachtragshaushalt am 27. Januar 2022.
  
  In seinem Urteil von letzter Woche erklärt das Bundesverfassungsgericht das Gesetz für „nichtig“. Es hätte nicht beschlossen werden dürfen. Beanstandet wurden in der Urteilsbegründung gleich mehrere Verstöße:
  
  

  • Die 60 Milliarden Euro Corona-Kredite seien im Frühjahr 2021 mit einer Notlage begründet worden. Dafür wurde eine Ausnahme von der verfassungsrechtlichen Verschuldungsgrenze festgestellt. Der Gesetzgeber hätte den Zusammenhang zwischen der 2021 festgestellten Notlage und der zweckfremden Neuverwendung der Mittel begründen müssen („Veranlassungszusammenhang“).

  
  

  • Zweitens verstößt der Nachtragshaushalt gegen das Verfassungsgebot der „Jährlichkeit“ und „Jährigkeit“. Die Kredite seien in 2021 als Schulden verbucht worden und könnten nicht in Folgejahren als „Sondervermögen“ geführt werden.
  • Drittens könne ein Nachtragshaushalt immer nur für das laufende Jahr beschlossen werden und nicht für das abgelaufene Haushaltsjahr.

  
  Das Urteil hat nun zur Folge, dass der Klima- und Transformationsfonds (KTF) um 60 Milliarden Euro reduziert werden muss. Das Bundesverfassungsgericht beanstandet nicht die geplante Verwendung der Mittel, sondern die verfassungswidrige Finanzierung. „Soweit hierdurch bereits eingegangene Verpflichtungen nicht mehr bedient werden können, muss der Haushaltsgesetzgeber dies anderweitig kompensieren“, heißt es im Karlsruher Richterspruch.
  
  Da die genauen Auswirkungen auch auf den regulären Haushalt noch unklar sind, entschied das Finanzministerium vorsorglich, bestimmte Zusagen aller Ministerien für kommende Jahre im Haushalt zu sperren.
  
  Quellen:  Red. / dpa / reuters / afp / ap / epd / kna

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• Die Haushaltssperre

  

  Die Bundesregierung steckt nach dem Verfassungsgerichtsurteil in einer doppelten Haushaltskrise. Erwartet wird, dass sie für das laufende Haushaltsjahr 2023 nachträglich eine Notlage erklärt und damit die gesetzlich vorgeschriebene Schuldenbremse aussetzt. Was aus dem Haushalt 2024 wird, ist völlig offen.
  
  Das Bundesfinanzministerium schätzt die Auswirkungen des Urteils offenbar ernster ein als bisher angenommen. Es weitete die Anfang dieser Woche für den Klima- und Transformationsfonds (KTF) verfügte Haushaltssperre auf nahezu den gesamten Bundeshaushalt aus.
  
  Die Nachrichtenagentur Reuters zitiert aus einem Schreiben von Haushalts-Staatssekretär Werner Gatzer: „Um weitere Vorbelastungen für künftige Haushaltsjahre zu vermeiden, beabsichtige ich daher, alle in den Einzelplänen 04 bis 17 und 23 bis 60 des Bundeshaushaltsplans 2023 ausgebrachten und noch verfügbaren Verpflichtungsermächtigungen mit sofortiger Wirkung zu sperren.“
  
  Mit den genannten Einzelplänen sind die Einzeletats aller Ministerien betroffen. Ausgenommen sind laut der Aufzählung Verfassungsorgane wie Bundespräsident, Bundestag, Bundesrat und Bundesverfassungsgericht. Im Einzelplan 60 sind der Klima- und Transformationsfonds und der 200-Milliarden-Euro-Abwehrschirm zur Dämpfung der Energiepreise angesiedelt.
  
  Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hatte den 200-Milliarden-Fonds – korrekt: Wirtschaftsstabilisierungsfonds (WSF) – im September 2022 als „Doppel-Wumms“ bezeichnet. Aus diesem Krisenfonds wurden seitdem die Strom- und Gaspreisbremsen für Verbraucherinnen und Verbraucher finanziert sowie Stützungsmaßnahmen für Firmen und wichtige Gasimporteure.
  
  Für die Finanzierung des noch bis Mitte 2024 laufenden WSF nutze die Bundesregierung ein ähnliches Verfahren wie beim Klima- und Transformationsfonds (KTF), dessen Aufstockung vergangene Woche durch das Bundesverfassungsgericht für unzulässig erklärt worden war. Die Kreditermächtigung in Höhe von 200 Milliarden Euro war ebenfalls mit einer Notlage begründet worden, wird als Sondervermögen geführt und sollte über die Folgejahre abfließen. Nun ergebe sich die Notwendigkeit, schreibt Gatzer, „die haushaltswirtschaftliche Gesamtlage“ zu überprüfen.
  
  Quellen:  Red. / dpa / reuters / afp / ap / epd / kna

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• Die Folgen

  

  Plan der Ampel-Koalition aus SPD, Grünen und FDP war es, den Etatentwurf für 2024 an diesem Donnerstag abschließend im Haushaltsausschuss des Bundestages zu beraten. Dies wurde am Mittwoch abgesagt. Damit fehlt auch eine Grundlage für den Bundestag, am 1. Dezember den Haushalt 2024 zu verabschieden. Die sogenannte „Haushaltswoche“ mit der parlamentarischen Beratung ist daher abgesetzt worden. „Auf die Tagesordnung der Bundestagssitzung nächste Woche werden andere Themen gesetzt“, erklärten die Fraktionsvorsitzenden von SPD, Grünen und FDP – kein Wort, wie es mit dem Etat 2024 weitergeht.
  
  Damit ist derzeit offen, ob in diesem Jahr noch ein Etat für 2024 verabschiedet werden kann. Möglich wäre das nach Angaben von Parlamentariern nur noch, wenn der Bundesrat einer Fristverkürzung zustimmt und womöglich eine Sondersitzung nach seiner turnusgemäßen Sitzung am 15. Dezember anberaumt. Die letzte reguläre Sitzungswoche des Bundestages in diesem Jahr steht vom 11. bis 15. Dezember an. Dann wäre ein Etatbeschluss noch möglich.
  
  Aus der Ampel heißt es, es werde voraussichtlich mehr Zeit benötigt. Zunächst müsse der Haushalt 2023 korrigiert werden, auf dem der Etat für 2024 aufsetze. Und die Fristen für die parlamentarische Beratung von Anträgen müssten eingehalten werden. Ein Termin im Dezember sei daher fraglich, hieß es.
  
  Wenn kein Etat für 2024 beschlossen würde, wäre die Bundesregierung damit keineswegs zahlungsunfähig. In Artikel 111 Grundgesetz ist die „vorläufige Haushaltsführung“ geregelt.
  
  Die vorläufige Haushaltsführung stellt sicher, dass die Regierung ihren Verpflichtungen nachkommen kann. Sie darf laut Artikel 111 Grundgesetz Ausgaben tätigen,
  
  

  • „um gesetzlich bestehende Einrichtungen zu erhalten und gesetzlich beschlossene Maßnahmen durchzuführen,
  • um die rechtlich begründeten Verpflichtungen des Bundes zu erfüllen,
  • um Bauten, Beschaffungen und sonstige Leistungen fortzusetzen oder Beihilfen für diese Zwecke weiter zu gewähren, sofern durch den Haushaltsplan eines Vorjahres bereits Beträge bewilligt worden sind.“

  
  Die vorläufige Haushaltsführung kennt man aus Jahren mit einer Bundestagwahl, etwa nach der Wahl 2021. Der von der Vorgängerregierung eingebrachte Haushaltsentwurf verfällt im neugewählten Parlament, die neue Regierung muss einen neuen Etatentwurf einbringen. Im Jahr 2022 wurde der Etat für das laufende Jahr daher erst im Juni beschlossen. Allerdings war bei Haushältern nicht sofort präsent, ob es so etwas schon einmal außerhalb von Bundestagswahlen gegeben hat. Denn laut Grundgesetz Artikel 110 ist der Bundeshaushalt vor Beginn des Haushaltsjahres festzustellen.
  
  Im Haushalt 2023 steht die Regierung vor dem Problem, dass sie Energiehilfen aus dem Krisenfonds WSF anders finanzieren müssen. Die Rede ist von einem Betrag in Höhe von 40 Milliarden Euro, der unter anderem für die Gas- und Strompreisbremsen bis Jahresende 2023 ausgegeben wird. Nach dem Urteil des Verfassungsgerichts fehlt die Finanzierungsgrundlage, weil im Jahr 2022 unter Aussetzung der Schuldenbremse erteilte Kreditermächtigungen dafür nicht mehr verwendet dürfen.
  
  Quellen:  Red. / dpa / reuters / afp / ap / epd / kna

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• Eine neue Notlage?

  Die Ampel-Koalition will wegen des Haushaltsurteils noch für das fast abgelaufene Jahr 2023 die Schuldenbremse aussetzen. Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) erklärte, er werde dem Kabinett in der kommenden Woche einen Nachtragshaushalt vorlegen. Eine Ministeriumssprecherin fügte hinzu, die Bundesregierung werde dem Bundestag vorschlagen, eine außergewöhnliche Notlage zu erklären. Auf diesem Weg sollen Kredite nachträglich rechtlich abgesichert werden, die in diesem Jahr bereits genutzt wurden.
  
  Ohne diese Absicherung hätte nach dem Urteil der Karlsruher Richter im Haushalt 2023 ein Verfassungsbruch gedroht. Denn die Richter entschieden, dass der Bund sich Notlagenkredite nicht für spätere Jahre auf Vorrat zurücklegen darf. Genau das hätte der Bund nach Auffassung von Experten im Wirtschaftsstabilisierungsfonds (WSF) für die Energiepreisbremsen aber gemacht.
  
  Aus diesem WSF wurden in diesem Jahr bis Ende Oktober bereits 37 Milliarden Euro ausgegeben, bis Jahresende dürfte weiteres Geld hinzukommen. Außerdem sollen Hilfen aus einem weiteren Fonds für Flutopfer abgesichert werden, der 2021 unter ähnlichen Bedingungen entstanden war. Insgesamt sollen Kredite in Höhe von rund 45 Milliarden Euro auf eine verfassungsrechtlich gesicherte Grundlage gestellt werden. „Es werden keine neuen Schulden aufgenommen, sondern lediglich die bereits abgeflossenen Mittel zur Krisenbewältigung auf eine sichere Rechtsgrundlage gestellt“, betonte Lindners Sprecherin.
  
  Der Finanzminister erklärte: „Ich betrachte es als meine Aufgabe, jetzt reinen Tisch zu machen.“ Erst dann könne man über den Haushalt des kommenden Jahres und über die nächsten Jahre sprechen.
  
  Um die Ausnahme der Schuldenbremse zu nutzen, muss der Bundestag eine Notlage beschließen. Das ist laut Artikel 115 des Grundgesetzes vorgesehen „im Falle von Naturkatastrophen oder außergewöhnlichen Notsituationen, die sich der Kontrolle des Staates entziehen und die staatliche Finanzlage erheblich beeinträchtigen“.
  
  Zur Begründung einer solchen Notlage könnte der Bund nach Auffassung von Sachverständigen argumentieren, dass die Folgen der Energiekrise Anfang 2023 noch spürbar waren. Experten hatten in einer Anhörung im Bundestag diese Woche deutlich gemacht, dass dies aus ihrer Sicht einen erneuten Notlagenbeschluss rechtfertige.
  
  Wann der Bundeshaushalt für das kommende Jahr beschlossen werden kann, ist dagegen noch offen. Der Entwurf muss nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts gründlich umgekrempelt werden.
  
  Quellen:  Red. / dpa / reuters / afp / ap / epd / kna

• Die Schuldenbremse

  

  Nach drei Krisenjahren war die Bundesregierung mit ihrem Haushalt 2023 wieder zur Einhaltung der Schuldenbremse zurückgekehrt. Sie ist gesetzlich geregelt und erlaubt dem Bund in einem Haushaltsjahr nur eine begrenzte Neuverschuldung. Die Schuldenbremse ist ein finanzpolitisches Instrument und besteht in Deutschland seit 2011. Verankert wurde die Schuldenbremse im Grundgesetz während der Finanz- und Wirtschaftskrise 2009.
  
  Die Schuldenbremse hat das Ziel, die langfristige Funktionsfähigkeit der Haushalte zu gewährleisten. Sie soll Bund und Ländern zur Erfüllung ihrer staatlichen Aufgaben einen finanziellen Spielraum sichern. Zuerst gilt der Grundsatz, dass Bund und Länder einen ausgeglichenen Haushalt ohne Einnahmen aus Krediten vorlegen müssen, damit künftige Generationen durch Schulden nicht belastet werden. Deshalb darf sich der Bund jedes Jahr maximal 0,35 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) neu verschulden. Für die Bundesländer gilt ein Verbot für Neuverschuldungen.
  
  Es besteht aber die Möglichkeit, die Schuldenbremse bei außergewöhnlichen Umständen auszusetzen. Das Gesetz spricht von „einer von der Normallage abweichenden konjunkturelle Entwicklung“. Die Regierung muss jedoch einen Plan vorlegen, der zeigt, wie die Schulden in Zukunft zurückgezahlt werden können.
  
  In Deutschland wurde die Schuldenbremse 2020 und 2021 wegen der Corona-Pandemie ausgesetzt. Unter anderem für Coronahilfen, um drohender Arbeitslosigkeit und dem Einbruch der Wirtschaft entgegenzutreten. 2022 wurde die Schuldenbremse ausgesetzt, um mit einem „Doppel-Wumms“ in Höhe von 200 Milliarden Euro die Folgen des Ukrainekriegs sowie die hohe Inflation abzufedern.
  
  Die deutsche Notenbank sieht in dem jüngsten Urteil des Bundesverfassungsgerichts die Schuldenbremse gestärkt. Vor allem die in dem Richterspruch betonte zeitlich enge Begrenzung der Notlagenkredite sei praktisch bedeutsam. So dürfe die Regierung die Ausnahmeklausel nicht nutzen, um künftige Haushalte vorzufinanzieren.
  
  Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) hatte einen Tag vor dem folgenreichen Urteil des Verfassungsgerichts noch ein Bekenntnis zur Schuldenbremse abgegeben. Mit Blick auf die schwierigen Beratungen im Bundestag zum Haushaltsentwurf für 2024, sagte Lindner: „Die Schuldenbremse steht nicht zur Disposition.“ Nun will er sie doch aussetzen und vom Bundestag erneut eine Notlage feststellen lassen.
  
  Quellen:  Red. / dpa / reuters / afp / ap / epd / kna

  Bildquelle: imago images/Elmenthaler