Die Lungenspezialisten rund um Professor Dieter Köhler zweifeln an, dass Feinstaub und Stickoxide (NO2) in deutschen Städten gesundheitsgefährdend seien - und stellen damit auch die drohenden Fahrverbote infrage, die in diesem Jahr überall im Land nach und nach in Kraft treten. Die Grenzwerte der Weltgesundheitsorganisation WHO seien nicht wissenschaftlich zustande gekommen, behaupten unter anderem die Skeptiker. Sie fordern deshalb eine Neubewertung der Studien.
Frontal21 und das 3sat-Wissenschaftsmagazin nano wollten wissen: Wer sind die Ärzte, die dem Unterschriftenaufruf gefolgt sind? Handelt es sich tatsächlich um Lungenärzte oder Forscher, die sich wissenschaftlich mit der Thematik beschäftigt haben, wie es über der Unterschriftenliste geschrieben steht?
Gemeinsam mit dem ehemaligen Daimler-Dieselmotor-Entwickler Thomas Koch und zwei weiteren Professoren antwortet Professor Köhler. Sie kritisieren die Frontal21-Redaktion für die Fragestellung. Eigene wissenschaftliche Studien zum Thema Gefährlichkeit von NO2 und Feinstaub, die von Drittgutachtern vor Veröffentlichung bewertet wurden, benennen sie aber nicht: "Öffentliche Stellungnahme zur Anfrage von Frontal21"
Frontal21 hat Informationen zu einigen Thesen der Kritiker von Grenzwerten und Messmethoden in der Debatte um Fahrverbote zusammengestellt:
"Die gesetzlichen Grenzwerte sind wissenschaftlich unhaltbar."
Die aktuellen Standards für saubere Luft sind in der EU-Richtlinie 2008/50/EG festgeschrieben, die seit dem Jahr 2010 europaweit umgesetzt wird. Darin ist beispielsweise auch der Grenzwert von jährlich 40 Mikrogramm pro Kubikmeter NO2 an besonders verkehrsreichen Straßen festgelegt. Der Wert richtet sich dabei nach der wissenschaftlichen Beurteilung einer Expertenkommission von 55 Wissenschaftlern der Weltgesundheitsorganisation WHO, die über mehrere Jahre andauerte (2003-2006).
Zum Zuge kamen dabei vor allen Dingen Langzeit- und epidemiologische Studien. Diese untersuchen, welche wechselseitigen Beziehungen (Korrelationen) zwischen dem Ausgesetzsein eines Risikofaktors und einer Erkrankung entstehen. Korrelationen sind dabei nicht gleichzusetzen mit der Ursache einer Erkrankung, worauf der Pneumologe Professor Dr. Witt von der Berliner Charité hinweist. Nach seinen Worten gibt es aber zudem über 70.000 experimentelle Arbeiten zu diesen Thema, die Ursache und Wirkung verknüpfen. Sein Fazit: "Es ist eine der am besten untersuchten Substanzen (…), die wir haben."
"Die Europäische Union hat strengere Grenzwerte als die USA."
Hat sie grundsätzlich nicht. Denn während die USA im Vergleich zur Europäischen Union bezüglich der NO2-Grenzwerte (Stickstoffdioxid) tatsächlich einen höheren Grenzwert hat (103 Mikrogramm pro Kubikmeter), ist der Höchstwert bei Feinstaubemissionen strenger. Die NO2-Grenzwerte der EU richten sich nach den Empfehlungen der WHO, unterliegen aber einer politischen Beurteilung, wonach die EU als Gesetzgeber eine verfassungsrechtliche Schutzpflicht gegenüber ihren Bürgern hat. Darauf weist der Europarechtler Christian Calliess hin - er ist Professor an der FU Berlin: Das Vorsorgeprinzip entspreche Artikel 191 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV). Die Grenzwerte sind deshalb so gewählt, dass selbst für Kinder, ältere Menschen und chronisch Kranke wesentliche negative Effekte auf die Gesundheit ausgeschlossen werden können. Ein solches Prinzip kennt die amerikanische Gesetzgebung nicht. Dort sind Patienten und Verbraucher in der Nachsorgepflicht und müssen Beweise für etwaige Schäden anführen.
"Standorte der Messstationen sind willkürlich und falsch gesetzt."
Die Standorte sind europaweit einheitlich geregelt. Zuständig für die Aufstellung von Messstationen sind die jeweiligen Bezirksregierungen und -ämter. Diese entscheiden, wo und in welchem Abstand zu Verkehrswegen Messstationen angebracht werden müssen. Wie viele Messstationen aufzustellen sind, richtet sich nach bestimmten Faktoren wie der Anzahl der in einem Ballungsgebiet lebenden Menschen und der dortigen Luftbelastung. Dabei darf die Menge von NO2-Emissionen in der Luft den jährlichen Durchschnitt von 40 Mikrogramm pro Kubikmeter nicht übersteigen. Die Bundesemissionsschutzverordnung, kurz BlmSchV, regelt, wie der durch die EU gesetzlich verankerten Grenzwerte in Deutschland geprüft werden muss. Die BlmSchV verordnet, dass Messstationen
- dort messen, wo die Luftverschmutzung am höchsten ist,
- nicht näher als in einem Abstand von 25 Metern zu einer verkehrsreichen Kreuzung angebracht werden dürfen, maximal 10 Meter vom Fahrbandrand und
- sich in höchstens zehn Metern Höhe befinden dürfen. Der Mindestabstand zum Boden beträgt 1,5 Meter.
Bei der Aufstellung der Messstationen spielt vor allem der sogenannte "Einflussschacht" eine Rolle. Dieser bezeichnet einen Ort, der möglichst repräsentativ die tatsächliche Luftverschmutzung wiedergibt. Um das zu gewährleisten, haben die zuständigen Behörden einen Ermessensspielraum bei der Auswahl der Messstandorte. Allerdings müssen sich diese mit den in der BlmSchV verankerten Kriterien decken. So müssen Messstationen zudem an besonders belasteten wie auch an weniger belasteten Standorten platziert werden. Sowohl die EU-Kommission (alle fünf Jahre) als auch die Bundesländer (alle zwei Jahre) überprüfen in regelmäßigen Abständen, ob die Messstationen richtig platziert sind. Eine Untersuchung durch den TÜV Rheinland 2018 befand, dass von 133 Messpunkten in Nordrhein-Westfalen an 132 nichts auszusetzen war. Bundesumweltministerin Svenja Schulze, SPD, hat den Bundesländern zudem angeboten, eine zusätzliche Standortüberprüfung durchzuführen.
"NO2 und Feinstaub werden falsch gemessen."
In Deutschland sind insgesamt über 650 Messstationen im Einsatz. Diese sammeln Daten über die Höhe der Luftbelastung. Dabei sollen die Messwerte die Situation der Luftverschmutzung möglichst repräsentativ wiedergeben. Um dies zu garantieren, müssen die ermittelten Werte die Luftverschmutzung von mindestens 90 Prozent eines Kalenderjahres erfassen.
Zur Bewertung der Ergebnisse werden die Messwerte jeder einzelnen Station festgestellt und mit den gesetzlichen Grenzwerten verglichen: Schert der Jahresmittelwert einer Messstation dabei von den Vorgaben ab, wird diese Überschreitung formell an die EU-Kommission durch das Umweltbundesamt weitergegeben, welche die Daten sammelt und überprüft. Deutschland messe die Luftbelastung dabei nicht strenger als andere EU-Staaten, sagt Maria Krautzberger, Präsidentin des Umweltbundesamts.
"Bislang greift nur Deutschland in Sachen Fahrverboten durch."
Deutschland ist nicht das einzige Land mit Fahrverboten: Großbritannien, Frankreich, Italien, Spanien, Belgien, Schweden - die Liste der EU-Staaten mit Fahrverboten ist lang. So verbannen einige italienische und belgische Städte Kraftfahrzeuge komplett aus der Innenstadt oder beschränken die Zufahrt durch City-Mauten. Auch Städte wie London schließen sich der Maut-Regelung an und besteuern Kraftzeuge nach Zulassungsart, Wochentag und Uhrzeit. Frankreich und Österreich beschränken die Einfahrt in Umweltzonen auf Fahrzeuge mit den Emissionsklassen höher als Euro 3 oder 4; die Einfahrt für EUR 0 bis Euro 2 Benziner und Euro 0 bis 3 Diesel ist in Madrid verboten. Malmö und Uppsala zum Beispiel untersagen Lkw und Bussen über 3,5 Tonnen die Einfuhr. Weitere EU-Länder mit Fahrverboten sind unter anderem: Portugal, Dänemark, Malta, Norwegen und Tschechien.
Quelle: Umweltbundesamt, ADAC, Datenbank EUR-Lex