Arbeitszeit: Müssen die Deutschen wieder mehr arbeiten?
Interview
Forderung nach mehr Arbeitszeit:Müssen die Deutschen wieder mehr arbeiten?
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Müssen wir einfach wieder mehr arbeiten, um dem Fachkräftemangel zu begegnen? Dieser Ansatz ist verkürzt, erklärt Experte Hoff im Interview und hat andere Lösungsvorschläge.
Hilft mehr Arbeitszeit gegen den Fachkräftemangel? (Symbolfoto)
Quelle: picture alliance/Sebastian Gollnow/dp
In der Debatte um den Fachkräftemangel in Deutschland fordert Michael Hüther, Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW), die Deutschen müssten wieder mehr arbeiten. In der Schweiz und in Schweden etwa arbeite eine Vollzeitkraft fast 300 Stunden mehr im Jahr als bei uns. Sind wir Deutschen also Faulenzer? Wo stehen wir im europäischen Vergleich?
Anders als vermutet, sind die Deutschen bei der wöchentlichen Arbeitszeit tatsächlich nicht Spitzenreiter in der EU. Am längsten arbeiteten 2022 laut Statistischem Bundesamt die Vollzeit-Erwerbstätigen in Griechenland (42,8 Wochenstunden). Deutschland rangiert mit 40,4 Stunden im unteren Mittelfeld. Rechnet man Teilzeitbeschäftigte hinzu, liegt Deutschland mit 34,8 Wochenarbeitsstunden etwas unter dem europäischen Durchschnitt von 37,0 Wochenarbeitsstunden.
Bis 2035 dürfte sich der Fachkräftemangel verschärfen, denn bis dahin gehen mit den Babyboomern 15 Prozent der rund 46 Millionen Erwerbstätigen in den Ruhestand. Sieben Millionen Fachkräfte, die dem Arbeitsmarkt fehlen dürften.
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Experten sehen allerdings noch viel Potenzial, um neben der Zuwanderung vorhandene Reserven auszuschöpfen. ZDFheute sprach mit Dr. Andreas Hoff, Experte für Arbeitszeitsysteme:
ZDFheute: Mehr arbeiten, ist es wirklich so simpel?
Hoff: Natürlich würde es helfen, wenn mehr gearbeitet werden würde. Beschäftigte müssen dies aber auch wollen - und das ist in unserem Land bei den Vollzeitbeschäftigten weit überwiegend nicht der Fall, sie arbeiten heute schon im Durchschnitt deutlich über ihre Vertragsarbeitszeit hinaus.
Aber dazu müssten die Rahmenbedingungen entsprechend geändert werden - insbesondere durch die Abschaffung der Minijobs, die Einschränkung des Ehegattensplittings, die Schaffung ausreichender Betreuungsangebote für Kinder und pflegebedürftige Angehörige und last but not least die Akzeptanz seitens der Arbeitgeber, dass auch qualifizierte Tätigkeiten und Führungspositionen in Teilzeit ausgeübt werden können.
SPD-Chef Lars Klingbeil hat das Ehegattensplitting-Aus gefordert:
ZDFheute: Tatsächlich ist die Zahl der Erwerbstätigen in Deutschland immer weiter gestiegen, und aktuell so hoch wie nie zuvor, die Produktivität, also die pro Arbeitsstunde erbrachte Leistung - stieg aber nicht - bedeutet mehr Arbeitszeit auch mehr Produktivität?
Hoff: Wenn man Erwerbstätige über die von ihnen gewünschte oder ihnen mögliche Arbeitszeit hinaus beschäftigt, besteht eher die Gefahr höherer Krankheitsquoten.
Aktuell ist der Krankenstand aber nach meinem Eindruck auch deshalb relativ hoch, weil viele Betriebe die Zeichen der Zeit noch nicht erkannt haben und ihre (zu) wenigen Beschäftigten in Dauer-Überlastung beschäftigen.
Wie denken wir "Arbeit" neu? Elite-Karriereberater trifft auf Lohnarbeits-Aussteiger:
ZDFheute: Was halten Sie von der diskutierten Vier-Tage-Woche?
Hoff: Das Angebot einer Vier-Tage-Woche ist für sehr viele Beschäftigte interessant, weshalb es unter den gegebenen Arbeitsmarkt-Bedingungen sehr gut nachvollziehbar ist, dass gerade kleinere Unternehmen solche Modelle anbieten - vielfach mit sehr gutem Erfolg. Allerdings sollte darin die Tages-Arbeitszeit nicht über neun Stunden hinaus ausgedehnt werden, was entsprechend niedrige Wochen-Vertragsarbeitszeiten voraussetzt.
Darüber hinaus passen verlängerte Tages-Arbeitszeiten nicht zu jeder Lebensphase, sodass es in Vier-Tage-Betrieben stets auch Angebote mit kürzeren Tagesarbeitszeiten geben sollte. Vier-Tage-Woche bedeutet im Übrigen ja nicht, dass auch der betreffende Betrieb nur vier Tage pro Woche für seine Kunden erreichbar sein muss; durch Entkopplung von Betriebs- und Arbeitszeit sind ohne Probleme auch fünf-, sechs- und siebentägige Betriebswochen möglich.
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ZDFheute: Welche anderen Möglichkeiten sehen Sie, die Wirtschaft anzukurbeln, ohne die Arbeitszeit zu erhöhen?
Hoff: Das mit dem "Ankurbeln" ist möglicherweise der falsche Ansatz. Wenn es nicht genügend Arbeitszeit-Volumen gibt, muss man sich als Betrieb und auch als Gesellschaft überlegen, wie man effizienter werden und welche Aufgaben und Aufträge man nicht mehr übernehmen kann; letzteres ist im Übrigen ein weit unterschätztes Instrument zur Effizienzsteigerung.
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ZDFheute: Entlohnung von Arbeitsstunden versus Entlohnung "erledigter Aufgaben"? Das wird ja auch an der einen oder anderen Stelle diskutiert, was halten Sie davon?
Hoff: Nichts. Im Arbeitsverhältnis wird Zeit gegen Geld getauscht - und das ist auch gut so, weil die damit verbundene Flexibilität gerade auch dem Arbeitgeber zugute kommt.
Das Interview führte Stephanie Barrett aus dem ZDF-Börsenteam.