Olympia 2024: Neugebauer zur Halbzeit auf Goldkurs

Bei 2,05 Metern im Hochsprung ließ Leo Neugebauer seinem extrovertierten Ich freien Lauf. Mit rudernden Armen forderte er das Publikum zum rhythmischen Klatschen auf. Einmal fiel die Latte, beim zweiten Versuch blieb sie liegen. Neugebauer ballte die Fäuste, zeigte seinen beachtlichen Bizeps und brüllte seine Freude heraus.

Nach einem kleinen Tief im Kugelstoßen war er zurück in der Spur. Am Ende des ersten Leichtathletik-Tages der Olympischen Spiele in Paris hat der für Stuttgart startende Zehnkämpfer Teil eins seiner Reifeprüfung auf internationalem Parkett solide bestanden. Er geht als Führender in die Pause.

Der Halter des deutschen Rekords sammelte 4.650 Zähler. "Ich bin sehr zufrieden, alles war sehr konsistent", gab Neugebauer zu Protokoll - bevor er sich ungewöhnlich schnell zur Erholung davon machte. "Die Arbeit ist noch nicht mal annährend fertig, erst nach dem Stabhochsprung weiß man so ungefähr, wo man liegt."

Auf Platz zwei folgt Ayden Owens-Delerme aus Puerto Rico mit 4.608 Punkten vor dem EM-Zweiten Sander Skotheim aus Norwegen (4.588). Tokio-Olympiasieger Damian Warner aus Kanada liegt mit 4.561 Punkten auf Rang vier, gefolgt von Europameister Johannes Erm aus Estland (4.510).

Weltmeister Pierce Lepage (Kanada) und Weltrekordler und Lokalmatador Kevin Mayer hatten ihren Start verletzungsbedingt absagen müssen.

Der ehemalige Welt- und Europameister Niklas Kaul erwischte einen schwachen Tag und liegt zur Halbzeit mit 4.041 Punkten auf Rang 20. Der 26-Jährige hat seine Stärken in der zweiten Hälfte des Wettbewerbs, da gelingt ihm oft noch eine fulminante Aufholjagd. Allerdings müsste er sich diesmal sehr deutlich steigern, um das innerdeutsche Duell in Paris noch für sich zu entscheiden.

"Was mich am meisten ärgert ist, dass ich nicht weiß, warum", sagte Kaul: "Ich habe mich gut gefühlt die letzten Tage." Besonders kaputt sei er auch nicht, kein Zwicken und Zwacken in den Muskeln: "Wenn man nicht an sein Leistungsmaximum drankommt, dann tut einem auch nichts weh."

Dritter Deutscher im Bunde ist in Paris nach der Corona-bedingten Absage von Manuel Eitel der Hallenser Till Steinforth, er liegt nach dem ersten Tag mit 4.336 Punkten auf Rang zwölf.

"Leo muss noch zeigen, dass er auch außerhalb der College-Wettbewerbe in den USA richtig gut performen kann", sagte der deutsche Zehnkampf-Bundestrainer Frank Müller zuletzt über seinen Besten. Neugebauer hatte sich im vergangenen Jahr auf 8.836 Punkte verbessert und den 39 Jahre alten Deutschen Rekord von Jürgen Hingsen gebrochen.

In diesem Jahr steigerte er sich auf 8.961 Punkte, nur fünf Zehnkämpfer weltweit waren jemals besser. Diese Top-Leistungen gelangen ihm jeweils auf der im Vergleich zu Olympia oder Weltmeisterschaften beschaulichen Bühne der US-College-Meisterschaften.

Zur WM im vergangenen Jahr kam Neugebauer als Shooting-Star, auch dort führte er nach dem ersten Tag. Aber er ließ sich von seinen Emotionen mitreißen: Selfies mit den Fans, Interviews in Dauerschleife, er nahm in der Pause alles mit, anstatt sich für Tag zwei zu erholen. Deshalb also bekam das extrovertierte Ich in Paris ein bisschen Pause, blieben Neugebauers Statements kurz.

Neugebauers Einzel-Leistungen in Paris - 10,67 Sekunden über 100 Meter, 7,98 Meter im Weitsprung, 16,55 Meter im Kugelstoßen 2,05 Meter im Hochsprung und 47,70 Sekunden über 400 Meter - lagen im Bereich seines Rekord-Zehnkampfs (10,64/7,88/17,46/2,07/48,03), mal ein bisschen drüber (Weitsprung und 400 Meter), mal etwas mehr drunter (Kugelstoßen). Insgesamt fehlen ihm lediglich 35 Punkte zum damaligen Zwischenstand.