17. Juni 1953: Panzer, fliegende Stalin-Gemälde und Mut
Volksaufstand in der DDR:Panzer, fliegende Stalin-Gemälde und Mut
von Christhard Läpple
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An Hunderten Orten protestierten Arbeiter und Regime-Kritiker vor 70 Jahren in der DDR. Zwei Augenzeugen erinnern sich an die Ereignisse vom 17. Juni 1953.
Vor 170 Jahren erhoben sich am 17. Juni 1953 Hunderttausende Menschen in der DDR gegen die SED. Arbeiter streikten gegen ihre Arbeiterregierung. DDR-weit kam es in über 700 Orten zu Protesten.
Gefängnisse werden gestürmt und die SED-Zentrale besetzt
Auch in Jena: Der damals elfjährige Günter Töpfer wird am Vormittag des 17. Juni 1953 von der Lehrerin nach Hause geschickt. Doch der Schüler ist neugierig und streift mit seinem Rad durch die Innenstadt. Er sieht, wie das Gefängnis gestürmt und Gefangene befreit werden.
1949 wird die DDR gegründet. Auf den jungen Staat richten sich große Hoffnungen. Doch schon vier Jahre nach der Gründung kulminieren Wut und Enttäuschung in einem Volksaufstand.
28.08.2022 | 44:29 min
Er ist dabei, als Demonstranten die Kreisleitung des kommunistischen Jugendverbandes FDJ, das Gewerkschaftshaus und schließlich die SED-Zentrale besetzen. Dort fliegen Papiere und Propagandamaterial aus den Fenstern. Beinahe wird Töpfer von einem Stalin-Bild getroffen. Der Junge erlebt, wie eine Frau Gewehre aus der SED-Zentrale an einem Gully zerbricht und unbrauchbar macht.
Auslöser für die Proteste war eine im April 1953 beschlossene zehnprozentige Normenerhöhung. Doch die Ursachen für die Revolte lagen tiefer. Der Aufbau der DDR führte zu Wirtschaftskrisen und allgemeiner Unzufriedenheit. Preise wurden erhöht, viele Waren gab es nur gegen Marken, waren unbezahlbar oder Mangelware.
Die Verfolgung sogenannter "objektiver Feinde des Aufbaus" wie Unternehmer, Christengemeinden und Intellektuellen mit Hilfe von Gummiparagraphen wie Boykotthetze füllte Gefängnisse. Zwischen Juni 1952 und Mai 1953 stieg die Zahl der Häftlinge in der DDR von 37.000 auf über 65.000 - eine der Hauptursachen für den Aufstand am 17. Juni 1953. Hundertausende flüchteten zudem aus Angst vor Verfolgung oder Enteignung in den Westen.
Im Artikel 6 der DDR-Verfassung wird die "Boykotthetze" unter Strafe gestellt. Sie umfasst auch Kritik an Partei und Staat. Das Gesetz wurde von der DDR-Führung gegen politische Gegner des Regimes ausgelegt. Das Strafmaß war nicht einheitlich definiert. In der Klausel steht: "Boykotthetze gegen demokratische Einrichtungen und Organisationen, Mordhetze gegen demokratische Politiker, Bekundung von Glaubens-, Rassen-, Völkerhass, militärische Propaganda sowie Kriegshetze und alle sonstigen Handlungen, die sich gegen die Gleichberechtigung richten, sind Verbrechen im Sinne des Strafgesetzbuches."
Arbeitsnormen regelten in der DDR die Höhe der Arbeitszeit. Am 14. Mai beschloss das Zentralkomitee der SED die Erhöhung der Arbeitsnormen um 10 Prozent.
Quelle: ZDF
Panzer beenden Aufstand in Jena
Am frühen Nachmittag rollen sowjetische Panzer durch Jena und treiben rund 20.000 Menschen auseinander. Töpfer steht unmittelbar neben einem Panzer, als ein sowjetischer Offizier über die Köpfe der Menge hinweg Warnschüsse abgibt. Wenig später bricht der Aufstand in Jena zusammen.
Dennoch bleibt der 17. Juni 1953 für den Bauingenieur ein Meilenstein auf dem Weg zum Fall der Mauer am 9. November 1989. Der Volksaufstand sei zwar gescheitert, aber nicht vergeblich gewesen, sagt der heute 81-jährigen Zeitzeuge, der in Berlin lebt.
70 Jahre nach dem DDR-Volksaufstand vom 17. Juni 1953 und 175 Jahre nach der deutschen Revolution von 1848 zeichnet Mirko Drotschmann Deutschlands langen Weg zur Demokratie nach.13.06.2023 | 88:33 min
Wilde Streiks an der Stalin-Allee
Lutz Rackow ist damals 21 Jahre alt. Als Jungredakteur vom Ost-Berliner "Morgen" erfährt er am Morgen des 16. Juni 1953 von seinem Bruder über wilde Streiks an der Stalinallee. Er setzt sich ohne Auftrag aus der Redaktion sofort auf sein Motorrad und folgt dem Protestzug durch Ost-Berlin. Die Arbeiter rufen:
Die Menge zieht zum Haus der Ministerien. Die Arbeiter wollen mit der Staatsführung über die Rücknahme der Normen verhandeln, doch SED-Politiker gehen auf Tauchstation. Von einem Baugerüst beobachtet Rackow die vielköpfige Protestversammlung, sieht an Brechts Berliner Ensemble einen umgestürzten Lautsprecherwagen. Er ist dabei, als am Ostberliner Polizeipräsidium Gefangene befreit werden.
Am 7. Oktober 1949 erklärte sich der Deutsche Volksrat im Detlev-Rohwedder-Haus zur provisorischen Volkskammer und setzte die Verfassung der DDR in Kraft. Der Deutsche Volksrat war eine Art Ersatzparlament der sowjetischen Besatzungszone. Das Gebäude diente als "Haus der Ministerien" der DDR.Heute ist das Detlev-Rohwedder-Haus der Hauptsitz des Bundesfinanzministeriums. Quelle: Bundesfinanzministerium
"Sieg und nicht Niederlage" trotz Niederschlagung der Proteste
Rackow geht am nächsten Morgen, am Mittwoch, den 17. Juni um 7 Uhr früh zum Strausberger Platz. Dort verhindert die "Kasernierte Volkspolizei" der DDR einen geplanten Aufmarsch der Unzufriedenen. Als am Mittag rund 600 sowjetische Panzer Richtung Brandenburger Tor rollen, beobachtet Rackow das dramatische Geschehen vom Dach seiner Redaktion in der Ost-Berliner Taubenstraße.
"Da war es vorbei", meint Rackow. Der 91-jährige Zeitzeuge sagt heute, er empfinde diesen Tag dennoch als "Sieg und nicht als Niederlage". Der 17. Juni habe der Welt gezeigt, dass die SED mit der Bevölkerung nicht einfach machen konnte, was sie wollte.
Was macht den 17. Juni 1953 historisch? Und warum sollte nicht nur auf Ost-Berlin geschaut werden? Dr. Kai Langer, Direktor der Stiftung Gedenkstätten Sachsen-Anhalt, im Interview.