DDR-Volksaufstand: Welche Bedeutung hat der 17. Juni?
Interview
DDR-Volksaufstand:Welche Bedeutung hat der 17. Juni?
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Was macht den 17. Juni 1953 historisch? Und warum sollte nicht nur auf Ost-Berlin geschaut werden? Dr. Kai Langer, Direktor der Stiftung Gedenkstätten Sachsen-Anhalt, im Interview.
Demonstranten werfen in Berlin mit Steinen nach sowjetischen Panzern beim Volksaufstand vom 17. Juni
Quelle: dpa
ZDFheute: Warum ist es so wichtig, nicht nur nach Berlin, sondern in das heutige Sachsen-Anhalt zu schauen?
Dr. Kai Langer: Es ist bedeutsam, auf die ganze DDR zu schauen. Sachsen-Anhalt war eine insgesamt besonders intensiv vom 17. Juni betroffene Region. Kennzeichnend in den damaligen Bezirken Magdeburg und Halle ist, dass anders als Berlin, Erfurt oder Dresden nicht Bauarbeiter die ersten waren, die den Aufstand vom Betrieb auf die Straße getragen haben, sondern Industriearbeiter. Und man kann sagen, von Magdeburg und Halle - den beiden großen Zentren - ist dann das übrige Umland entzündet worden. Fast jede Kleinstadt hatte ihren eigenen Aufstand.
Quelle: Julia Herzsprung
... ist seit 2010 Direktor der Stiftung Gedenkstätten Sachsen-Anhalt. Er wurde 1969 in Rostock in der damaligen DDR geboren. In seiner Geburtsstadt studierte er Geschichte und Germanistik.
Und ein besonderes Kennzeichen für Magdeburg ist, dass die Ereignisse hier auch besonders blutig gewesen sind. Also es gab Tote, es fielen Schüsse. Zudem: Es fanden DDR-weit Dutzende von Versuchen statt, politische Gefangene aus Gefängnissen zu befreien. 1.400 Menschen sind auf diese Art und Weise freigekommen - allein hier in Magdeburg 221 Menschen und in Halle etwa 250.
ZDFheute: Es hat ja in über 700 Orten Demonstrationen, Proteste und Aufruhr gegeben ...
Langer: Diese Aufstandsbewegung hat sich nicht nur am 17. Juni abgespielt, sondern in der Zeit vom 12. Juni bis 21. Juni. Und der Aufstand begann eben auch nicht, wie immer kolportiert wird, auf der Berliner Stalinallee, sondern er begann in Brandenburg vor einem Gefängnis, wo sich also erst fünf, sieben Leute dafür einsetzten, einen Gewerbetreibenden aus der Stadt frei zu bekommen. Binnen Stunden sind das Tausende gewesen, die auch die Freilassung dort erwirkt haben.
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ZDFheute: Welche Vorgeschichte hatte der 17. Juni in der DDR?
Langer: Man muss wahrscheinlich noch einmal zurück gehen: Im Juli 1952 hat die SED-Führung den Aufbau des Sozialismus in der DDR beschlossen, proklamiert auf Anweisungen von Stalin aus Moskau. Es folgte eine beispiellose Repressionswelle. Die Strafgesetze wurden verschärft. Wie in der Sowjetunion sollten Eigentumsdelikte, also Diebstahl von sogenanntem sozialistischen Eigentum, mit drakonischen Strafen belegt werden. Kleinunternehmer, Gewerbetreibenden wurden mit Strafverfahren wegen Wirtschaftsverbrechen überzogen.
Gleichzeitig gab es auch große ökonomische Probleme: zum Beispiel die Erhöhung der Lebensmittelpreise, die Abschaffung von Lebensmittelkarten.
Auch die erste Welle der Kollektivierung in der Landwirtschaft rollte an, in der das private Bauernland zwangskollektiviert worden ist. All das hat einen großen Unmut herbeigeführt. Das Fass zum Überlaufen gebracht hat dann die Ankündigung einer zehnprozentige Normerhöhung.
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ZDFheute: Welche Bedeutung hatte der Tag damals - in der BRD und in der DDR?
Langer: In der DDR wurde er als ein faschistischer Putschversuch bewertet, der zentral vom Westen gesteuert worden sei. Und im Westen hat man diesen Tag als Feiertag, als Tag der deutschen Einheit begangen, und es war auch ein Tag der Deutschen Einheit, weil eine wichtige Forderung der Menschen, die im Osten protestiert haben, war ja Wiederherstellung der deutschen Einheit.
ZDFheute: Was hatte die Niederschlagung mit den Menschen gemacht? Mit der Staatsführung?
Langer: Bei den Leuten, die auf der Straße gewesen sind, hat das große Traumata ausgelöst. Viele haben danach nicht mehr drüber gesprochen, manche erst wieder nach der Deutschen Einheit. Es gab damals sogar Reaktionen von Kindern, die meinten, dass sich ihre Eltern schuldig gemacht haben, dass sie kriminell gewesen sind, weil sie sich an diesem Ereignis beteiligt haben. Das ist natürlich etwas zutiefst Verstörendes und Frustrierendes aus heutiger Sicht.
Und man wollte verhindern, dass es jemals wieder dazu kommen wird. Im Herbst 1989 hat der damalige Stasi-Chef Mielke seine Mitarbeiter gefragt, ob es denn so sei, dass morgen wieder der 17. Juni ausbricht.
ZDFheute: Wir feiern den 70. Jahrestag des Volksaufstandes - wie sollte an ihn erinnert werden?
Langer: Es ist vor allem wichtig, das im Bildungskanon zu verankern: dass in Schulen davon gesprochen wird, dass Gedenkstätten aufgesucht werden aus Anlass eben dieses Tages, um die Erinnerung daran wachzuhalten. Es gibt viele innovative Formate wie Apps, Virtual Reality, wo man solche Ereignisse interessant für Jugendliche aufbereiten kann.
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Dieser Tag hat es jedenfalls verdient, dass man ihn einen würdigen Platz in der Erinnerungskultur im kollektiven Gedächtnis einräumt - und zwar jenseits von runden Feiertagen.
ZDFheute: Wofür ist das Gedenken an diesen Tag wichtig?
Langer: Widerstand und Kampf gegen Ungerechtigkeit sind ein zeitloses Thema. Wir leben heute in einer demokratischen Gesellschaft, die von Widerspruch lebt, und der 17. Juni war natürlich ein Ereignis in einer Diktatur, wo es um Widerstand ging, das Erkämpfen einer demokratischen Ordnung. Das sollte man nicht vergessen.
Das haben diese Menschen damals getan, und insofern sind sie heute für uns immer noch aktuell.
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