Präsidentschaftswahl Türkei:Die Entscheidung: Erdogan gegen Kilicdaroglu
von Jörg Brase
|
Am Sonntag fällt die Entscheidung in einer Stichwahl. Wer kann seine Wähler ein zweites Mal mobilisieren? Der Herausforderer schmiedet dafür gewagte Allianzen.
Burak Binzet schaut in die Gesichter der Männer und Frauen, die vor ihm im Parteibüro Platz genommen haben und redet eindringlich auf sie ein. "Uns wurde der Sieg gestohlen," ruft er, "das darf uns diesmal nicht wieder passieren."
Kopfschütteln über Ergebnis im ersten Durchgang
Binzet ist CHP-Vorsitzender in der anatolischen Provinz Adiyaman in der Türkei, die stark vom Erdbeben Anfang Februar getroffen wurde. Wie alle, die sich hier versammelt haben, war er schockiert vom Ergebnis der Wahlen vom 14. Mai. Wieder hatte es für die größte Oppositionspartei für nur einen einzigen Sitz im Parlament gereicht.
Wieder hatte die regierende AK-Partei des Präsidenten vier Sitze für Adiyaman erobert. Wie schon bei den letzten Wahlen vor fünf Jahren. Und wie damals lag Erdoğan in Adiyaman bei der Präsidentschaftswahl wieder klar vorne - mit 66 Prozent. Wie konnte das sein? In den Umfragen hatte ihr Kandidat, der CHP-Vorsitzende Kemal Kılıçdaroğlu, bis zuletzt vorne gelegen. Wie Binzet und seine ParteigenossInnen fragen sich das viele in diesen Tagen.
Ihr Problem ist, dass die Zeit drängt. Am kommenden Sonntag schon kommt es zur entscheidenden Stichwahl. Binzet muss seine Truppen motivieren, nicht die Köpfe hängen zu lassen. Sondern weiterzumachen, wieder ihre Stimme abzugeben und vor allem: diese Stimmen zu bewachen. Also genau hinzuschauen bei der Auszählung und der Meldung der Zahlen an die oberste Wahlbehörde in der türkischen Haupstadt Ankara.
Ziel: Motivation nicht verlieren
Da sei es in Runde eins zu Unregelmäßigkeiten gekommen, sagt Binzet: "Wir haben ihnen eingehämmert, wie wichtig eine hohe Motivation ist, um die Wahlen zu gewinnen. Wir haben ihnen gesagt, dass sie keinen Grund haben, traurig zu sein." Er betont:
Die Türkei hat die Stichwahl: Hat der Erdoğan-Herausforderer Kılıçdaroğlu überhaupt eine Chance gegen den amtierenden Präsidenten im Duell?24.05.2023 | 6:51 min
Viele aber denken nicht so. Yılmaz Bozdemi beschreibt die Situation so:
Bozdemir ist Anhänger der pro-kurdischen HDP. Deren Anhänger waren von der HDP-Parteiführung aufgerufen worden, für den Wechsel, also für den Präsidentschaftskandidaten Kılıçdaroğlu von der CHP zu stimmen. Der hatte sich im Vorfeld mit den Parteispitzen getroffen, um die kurdischen Stimmen geworben und versprochen, den seit 2016 inhaftierten ehemaligen HDP-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş per Dekret auf freien Fuß zu setzen, sollte er die Wahl gewinnen. Die Frage ist nun, ob viele kurdische WählerInnen dem zweiten Wahlgang fernbleiben - Stimmen, die Kılıçdaroğlu am Ende fehlen könnten.
Erdoğan weiß Schwächen zu nutzen
Mit seinem Kooperationsangebot an die pro-kurdische HDP hatte Kılıçdaroğlu seinem Widersacher eine offene Flanke geboten, die der erfahrene Wahlkämpfer Erdoğan sofort attackierte. Keine Wahlkampfveranstaltung, bei der Erdoğan Kılıçdaroğlu nicht der Zusammenarbeit mit Terroristen beschuldigte.
Am 14. Mai 2023 wird in der Türkei gewählt. Wählt das Land wieder Erdogan und zementiert seine Autokratie? Oder gelingt die Rückkehr zu einer parlamentarischen Demokratie?10.05.2023 | 27:36 min
Ein Argument, das offenbar sehr erfolgreich bei vielen nationalistischen WählerInnen verfing. Trotz aller Kritik an hoher Inflation und schlechtem Krisenmanagement nach dem verheerenden Erdbeben im Februar sitzt die Angst vor einer terroristischen Bedrohung bei vielen tief. So stimmten viele Nationalisten am Ende doch wieder für Erdoğan.
Gemeinsames Ziel macht ungewöhnliche Allianzen möglich
Um für dieses Lager attraktiver zu werden, traf Kılıçdaroğlu am Mittwoch eine Vereinbarung mit Ümit Özdağ, dem Vorsitzenden der ultranationalistischen Zafer-Partei. Diese hatte im ersten Wahlgang mit dem Kandidaten Sinan Oğan zusammengearbeitet, der in der Stichwahl nicht mehr antreten kann.
- Amtsinhaber Recep Tayyip Erdogan hat die Stichwahl in der Türkei gewonnen.
- Herausforderer Kilicdaroglu beklagt "ungerechteste" Wahl überhaupt.
- Mehr als 61 Millionen Menschen waren zur Stimmabgabe aufgerufen.
Özdağ lehnt jede Zusammenarbeit mit der HDP ab, was viele KurdInnen wütend macht. Die HDP-Führung aber empfahl ihren Unterstützern nun trotzdem, auch im zweiten Wahlgang Kılıçdaroğlu zu unterstützen. Das gemeinsame Ziel, Erdoğan zu stürzen, lässt Allianzen zwischen Parteien entstehen, die im Grunde unvereinbar sind.
Jörg Brase ist Studioleiter im ZDF-Studio Istanbul.
Mehr zum Wahlkampf in der Türkei
9:58 min