Stoltenberg: "Die Ukraine war noch nie so nah an der Nato"

    Interview

    Stoltenberg zieht Gipfel-Bilanz:"Die Ukraine war noch nie so nah an der Nato"

    Florian Neuhann
    von Florian Neuhann, Vilnius
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    Nato-Chef Stoltenberg zieht eine Bilanz des Gipfels in Vilnius. Und spricht darüber, wie sich die Sicherheitszusagen der G7 von einer echten Garantie durch die Nato unterscheiden.

    Jens Stoltenberg am 12.07.2023 in Litauen
    Anfang Juli verlängerte die Nato die Amtszeit von Generalsekretär Jens Stoltenberg.
    Quelle: picture alliance / NurPhoto

    ZDFheute: Herr Stoltenberg, das hätte Ihr letzter Gipfel als Nato-Generalsekretär sein können - jetzt müssen Sie doch noch ein Jahr weitermachen.
    Jens Stoltenberg: Ja - aber ich fühle mich geehrt. Es ist ein Privileg, als Generalsekretär der Nato zu arbeiten. Insbesondere in dieser Zeit, in der ein echter Krieg in Europa stattfindet und wir die Ukraine unterstützen müssen.
    ZDFheute: Ihre Aufgabe ist es, diesen Gipfel als Erfolg zu verkaufen. Aber haben Sie, sagen wir, in der hintersten Kammer Ihres Herzens, nicht doch Verständnis für den großen Frust auf der ukrainischen Seite, dass das Land keine Einladung in die Nato bekommen hat?
    Stoltenberg: Nun, ich habe Präsident Selenskyj hier getroffen. Und er hat dabei zum Ausdruck gebracht, wie sehr er die weitere militärische Unterstützung begrüßt - und auch die weiteren Schritte, die wir unternehmen, um die Ukraine näher an die Nato zu bringen.

    Jens Stoltenberg, NATO Generalsekretär
    Quelle: epa

    ... wurde 1959 in Oslo geboren. Der Sozialdemokrat war von 2000 bis 2001 und von 2005 bis 2013 Ministerpräsident von Norwegen. Seit Oktober 2014 ist er Generalsekretär der Nato.

    Wir richten einen Nato-Ukraine-Rat ein, wir haben die klare Aussage, dass die Ukraine Mitglied werden wird, und wir verkürzen den gesamten Beitrittsprozess von einem zweistufigen in einen einstufigen Prozess. Das alles wird von der Ukraine begrüßt.
    ZDFheute: Aber noch gestern hat derselbe Selenskyj auf Twitter geschrieben, die Entscheidung der Nato sei "beispiellos und absurd". War das nicht viel eher Ausdruck seiner Frustration?
    Stoltenberg: Für mich ist entscheidend, was er in dem Treffen und auf unserer Pressekonferenz gesagt hat.

    Natürlich ist es verständlich, dass die Ukraine, die sich mitten in einem Krieg befindet, um so viel wie möglich bittet - sowohl, was die militärische Unterstützung betrifft, als auch, was eine politische Botschaft angeht.

    Deshalb freue ich mich auch darüber, dass der Präsident unsere Entscheidungen begrüßt hat. Die Ukraine war noch nie so nah an der Nato.
    Sicherheitsgarantien ja, eine Einladung zum Nato-Beitritt gab es nicht:
    ZDFheute: Statt einer Einladung in die Nato bekommt die Ukraine nun eine Sicherheitsgarantie von den G7-Staaten. Was unterscheidet solche Sicherheitsgarantien von einer Nato-Mitgliedschaft?
    Stoltenberg: Die Nato-Mitgliedschaft bedeutet, dass die Ukraine in vollem Umfang unter Artikel 5 fällt. Darin heißt es: Ein Angriff auf einen Verbündeten wird als Angriff auf alle betrachtet - und löst eine automatische Reaktion aller aus. Was die Sicherheitszusagen betrifft: Das ist Sache der G7, die genauen Modalitäten zu erklären.
    Aber ich begrüße, was sie vorhaben - der Ukraine die Zusicherung zu geben, sie auf lange Sicht zu unterstützen. Das ist wichtig, aber das kann man nicht mit Artikel 5 der Nato vergleichen.
    ZDFheute: Ich sehe, dass Sie das Wort "Garantie" vermeiden, stattdessen von "Sicherheitszusage" sprechen. Das Wort Garantie ist hier irreführend?
    Stoltenberg: Mit ihren Sicherheitszusagen sagen die Staaten nachhaltige Unterstützung zu. Das ist extrem wichtig. Aber das unterscheidet sich von der Sicherheitsgarantie der Nato - dass bei einem Angriff die gesamte Allianz da ist, ein Land zu verteidigen.
    ZDFheute: Die Frage ist ja, ob diese Sicherheitszusagen auch Regierungswechsel überdauern werden. 2024 steht in den USA die Präsidentschaftswahl an, es wird vielleicht einen anderen Präsidenten geben.
    Stoltenberg: Zuallererst gibt es in den Vereinigten Staaten eine sehr hohe parteiübergreifende Zustimmung zur Unterstützung der Ukraine. Natürlich gibt es immer Gegenstimmen - aber ich habe selbst Washington besucht, ich habe mit Mitgliedern des US-Kongresses gesprochen.
    Und die klare Botschaft der überwältigenden Mehrheit der Demokraten und auch der Republikaner lautet, dass die USA der Ukraine zur Seite stehen werden. Und zweitens denke ich:

    Je mehr wir in der Lage sind, die Unterstützung zu institutionalisieren, desto besser.

    All dies macht die Unterstützung robuster und weniger anfällig für wechselnde politische Stimmungen.
    ZDFheute: Sie glauben also, dass sich die Ukraine auf solche Zusicherungen wirklich verlassen kann?
    Stoltenberg: Absolut. Wir müssen anerkennen, dass die Staaten die Ukraine auch unterstützen, weil es in unserem Sicherheitsinteresse liegt, dass Präsident Putin nicht gewinnt.
    Denn wenn er in der Ukraine gewinnt, wird das nicht nur eine Tragödie für die Ukraine sein, sondern auch gefährlich für uns. Denn dann wäre die Botschaft: Wenn er in ein anderes Land einmarschiert, bekommt er, was er will. Also dient die Unterstützung der Ukraine auch unserer Sicherheit.







    ZDFheute: Schauen wir noch kurz auf die Lage im Krieg. Die Gegenoffensive kommt nicht so voran, wie viele im Westen gehofft haben. Wie ist Ihre Einschätzung - wird die Ukraine vor dem Herbst echte Erfolge erzielen?
    Stoltenberg: Kriege sind von Natur aus unberechenbar. Daher sollten wir mit Vorhersagen vorsichtig sein. Dennoch haben wir gesehen, dass die Ukrainer Fortschritte bei der Befreiung der besetzten Gebiete machen konnten - und das, obwohl sie auf heftigen russischen Widerstand stoßen, mit eingegrabenen Truppen, Landminen, vielen alten Drachenzähnen oder Systemen zum Stoppen gepanzerter Fahrzeuge. Und trotz alledem machen sie tatsächlich Fortschritte.

    Die Hauptfrage für uns ist jetzt: Was sollen wir tun? Wir müssen sie einfach weiter unterstützen.

    Wir müssen ihnen in guten Zeiten zur Seite stehen, wenn sie große Siege erringen - aber auch in schlechten, wenn wir nicht so schnelle Erfolge sehen.
    Florian Neuhann ist ZDF-Korrespondent im Studio Brüssel. Er spürt nach 500 Tagen Krieg "deutliche ermüdungserscheinungen" im Westen:

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