Justizreform: Wie Polen an den Grundfesten der EU rüttelt
EuGH-Urteil zu Justizreform:Wie Polen an den Grundfesten der EU rüttelt
von Isabelle Schaefers
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Der Europäische Gerichtshof hat entschieden: Polen verstößt mit seiner Justizreform gegen EU-Recht. Welche Auswirkungen hat das Urteil und wird sich jetzt etwas ändern?
Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat heute geurteilt: Polen verstößt gegen EU-Recht, indem die Regierung die Unabhängigkeit der Justiz einschränkt. Aber bei dem Urteil geht es um mehr als die polnische Justizreform. Es geht auch um die Frage, wie die EU ihre eigenen Werte und Prinzipien in den eigenen Reihen durchsetzen kann.
Keine unabhängigen Gerichte in Polen
Die EU-Kommission hat bereits mehrfach Klage gegen Polen beim EuGH eingereicht. Insbesondere geht es um die mangelnde Unabhängigkeit der Richter und die beschnittene Möglichkeit der Gerichte, sich auf EU-Recht zu berufen. "Die Unabhängigkeit der Gerichte ist in Polen definitiv seit geraumer Zeit nicht nur in Gefahr, sondern tatsächlich inexistent", sagt Prof. Franz Mayer von der Uni Bielefeld. Er ist unter anderem Professor für Europarecht.
"Man hat zunächst das Verfassungsgericht gekapert und danach die normalen Gerichte übernommen, indem man eigene Leute aus der Partei dort platziert hat" Alles, was Polen bisher dagegen unternommen hat, war eher kosmetischer Natur.
In Polen folgten Hunderttausende dem Aufruf der Opposition und protestierten gegen die PiS-Regierung.05.06.2023 | 3:53 min
Instrumente der EU sind begrenzt
Das heutige Urteil ist das Ergebnis eines Vertragsverletzungsverfahrens, das die EU-Kommission eingeleitet hat. Allerdings viel zu spät, findet Mayer. "Man kann sich tatsächlich wundern, warum die Rechtsstaatsdefizite in Polen lange sehr, sehr nachgiebig hingenommen worden sind. Man hätte früher sehr viel massiver einschreiten müssen." Allerdings sind die Möglichkeiten begrenzt.
Sowohl Vertragsverletzungsverfahren als auch der noch recht neue Konditionalitätsmechanismus setzten sehr punktuell an. Letzterer etwa vor allem bei der Veruntreuung von EU-Geldern, also Korruption. "Was wir in Polen haben, ist aber ein strukturelles Problem und dafür gibt es eigentlich das Artikel 7-Verfahren", erklärt Mayer.
Das Problem ist allerdings, dass Ungarn und Polen sich bei Fragen der Rechtsstaatlichkeit gegenseitig decken.
Mit Artikel 7 des EU-Vertrags soll sichergestellt werden, dass sich alle EU-Mitgliedsstaaten an Werte wie Demokratie und Rechtsstaatlichkeit halten. Er sieht bei "schwerwiegender und anhaltender Verletzung" der Werte als schwerste Sanktion eine Aussetzung der Stimmrechte vor.
Die Hürden dafür sind allerdings hoch. Zunächst muss offiziell festgestellt werden, dass in dem betreffenden Land die "eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung" von EU-Werten besteht. Dafür wäre im Rat der Mitgliedsstaaten eine Vier-Fünftel-Mehrheit erforderlich - das heißt 22 Länder müssten zustimmen.
In einem zweiten Schritt müssten die EU-Partner dann einstimmig feststellen, dass eine "schwerwiegende und anhaltende Verletzung" der Werte tatsächlich vorliegt. Erst danach könnte mit sogenannter qualifizierter Mehrheit beschlossen werden, die Stimmrechte in der EU auszusetzen. Die qualifizierte Mehrheit würde in diesem Fall die Zustimmung von mindestens 20 Staaten mit mindestens 65 Prozent der EU-Bevölkerung erfordern.
Das Verfahren nach Artikel 7 ist in der Geschichte der EU noch nie zur Anwendung gekommen. Weil es so schwerwiegende Sanktionen wie einen Stimmrechtsentzug möglich macht, wird es in Brüssel auch als "Atombombe" bezeichnet. In etlichen EU-Staaten gab es zuletzt Widerstand, es überhaupt in Erwägung zu ziehen. Als Grund gilt auch die Gefahr, dass im Zuge des Verfahrens nicht die erforderlichen Mehrheiten zustande kommen. Die EU könnte dann bei einem wichtigen Thema wie der Wahrung der Rechtsstaatlichkeit bloßgestellt werden.
Quelle: dpa
Strafen der EU tun nicht genug weh
"Man muss den Befund so formulieren: So richtig effektiv ist gegenwärtig keins der Instrumente. Allein der Umstand, dass man einen Mitgliedsstaat nicht aus der EU ausschließen kann, zeigt, dass das letztlich alles nicht effektiv sein kann", sagt Mayer.
Das einzige, was einen gewissen Hebel erzeugt, ist Geld: Da Polen die bisher eingeforderten Zwangszahlungen nicht bezahlt hat, hat die Kommission die Gelder einbehalten - bisher rund 650 Millionen Euro. "Das klingt nach viel Geld, aber der polnische Staatshaushalt umfasst knapp 100 Milliarden Euro. Da ist eine halbe Million pro Tag durchaus über eine gewisse Zeit verkraftbar - vor allem, wenn man die politische Entscheidung getroffen hat, sich nicht an das Recht halten zu wollen", so Mayer.
Was mehr wehtun könnte: Polen bekommt auch aus dem Covid-Wiederaufbaufonds derzeit nicht alle Gelder - auch wegen Rechtsstaatsverletzungen. Dabei handelt es sich um rund 60 Milliarden Euro.
Rechtsstaatlichkeit das zentrale Thema mit Blick auf EU-Erweiterung
Für die EU stellt sich aber auch eine ganz grundsätzliche Frage: Wie kann man künftig Rechtsstaatlichkeit innerhalb der EU garantieren? "Im gegenwärtigen Zustand könnte Polen definitiv nicht EU-Mitglied werden. Bei den Beitrittsverfahren der letzten Jahrzehnte hat man fast blauäugig darauf vertraut, dass nach dem Beitritt die Dinge so bleiben, wie davor", kritisiert Mayer.
Deshalb muss die EU sich nun auch überlegen, wie sie künftig sicherstellen kann, dass die Regeln eingehalten werden - und zwar dauerhaft. "Das ist für das europäische Integrationsprojekt hochgefährlich. Und so ist die Rechtsstaatlichkeit das zentrale Thema mit Blick auf die EU-Erweiterung, Stichwort Ukraine."
Wahlen in Polen die einzige Hoffnung auf Veränderung
Polens Rechtsstaatsverletzungen waren seit Ausbruch des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine in Brüssel ein bisschen vom politischen Radar verschwunden. Polen stand – anders als Ungarn – fest an der Seite der Ukraine – und somit der Mehrheit der EU-Staaten. Doch dieses Urteil ruft in Erinnerung: Es gibt wenig Grund, auf ein Umdenken der aktuellen Regierung zu hoffen.
Polens PiS-Regierung hat mit einem Auschwitz-Video Stimmung gegen die Opposition gemacht. Dem ging ein regierungskritischer Tweet voraus, der ebenfalls auf den Holocaust anspielte.
Ein aktuelles Gesetz lässt sogar das Gegenteil befürchten.
"Das wäre nochmal ein weiterer Eskalationsschritt in der Entfernung Polens von rechtsstaatlichen Standards." Die einzige Hoffnung, die man in Brüssel wirklich hat, sind die Wahlen in Polen im Herbst.