Moskaus Vergeltungsschlag mit 600 Toten war wohl erfunden

    Kreml erfindet 600 tote Ukrainer:Moskaus Vergeltung offensichtliche Propaganda

    Oliver Klein
    von Oliver Klein
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    Moskau behauptet, bei einem Angriff über 600 ukrainische Soldaten getötet zu haben. Reporter vor Ort berichten, dass das nicht stimmen kann. Warum lügt der Kreml so offensichtlich?

    Ukraine, Kramatorsk: Gebäude der angeblich getroffenen Schule, Bombenkrater  im Innenhof.
    Ukraine, Kramatorsk: Bombenkrater sind vor den angeblich getroffenen Gebäuden zu sehen, die Häuser selbst sind weitgehend intakt.
    Quelle: Evgeniy Maloletka/ap

    Für Russland war der ukrainische Angriff auf eine Kaserne an Silvester eine schlimme Demütigung. Moskau hatte den Tod von 89 Soldaten in Makijiwka eingeräumt, ukrainische Quellen jedoch von über 400 Toten und 300 Verletzten berichtet. In Russland sorgte der Fall für scharfe Kritik an der eigenen Führung.
    Diese Schmach wollte der Kreml offenbar nicht auf sich sitzen lassen: Die russischen Streitkräfte starteten am Wochenende mehrere Raketenangriffe, unter anderem auf zwei angebliche Kasernen im ostukrainischen Kramatorsk. Armee-Sprecher Igor Konaschenkow sprach von einem "Vergeltungsschlag" und verkündete, es seien "mehr als 600 ukrainische Soldaten getötet" worden. Kiew dementiert diese Angaben, nennt die Berichte "Unsinn".

    Gebäude wurde nicht direkt getroffen

    Beweise legte Russland nicht vor - die Darstellung scheint vielmehr pure Propaganda zu sein. Denn mehrere Reporter in Kramatorsk berichten übereinstimmend, dass es an den zwei Schulgebäuden, von denen Russland behauptete, sie hätten vorübergehend Hunderte ukrainischer Soldaten beherbergt, keinerlei Hinweise auf einen Raketenangriff mit derartig hohen Opferzahlen gebe. Ein Reuters-Reporter berichtet, es gebe keine offensichtlichen Anzeichen dafür, dass dort überhaupt Soldaten gelebt haben und auch "keine Anzeichen von Leichen oder Blutspuren."
    Ein CNN-Team war am städtischen Leichenschauhaus - auch dort "keine ungewöhnlichen Aktivitäten", wie es heißt. Der finnische Reporter Antti Kuronen postete bei Twitter mehrere Fotos der angeblich getroffenen Schule. Zu sehen sind Einschlagskrater von Raketen direkt vor den Häusern - "kein direkter Treffer", schreibt Kuronen. Seinen Quellen zufolge war das Gebäude kurz nach dem Angriff leer.

    Prorussischer Kriegsblogger spricht von "Betrug"

    Dieselbe Beobachtung machte der italienische Journalist Daniele Raineri an der Schule: Die Raketen hätten ihre Ziele verfehlt, so der Reporter bei Twitter. Die Gebäude sehen weitgehend intakt aus - unvorstellbar, wie hier Hunderte Menschen ums Leben gekommen sein sollen.
    Daniele Raineri bei Twitter
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    Selbst russische Militärblogger glauben der Kreml-Propaganda nicht: "Reden wir über Betrug", schreibt "Militärischer Informant", einer der prominentesten Kriegsbefürworter bei Telegram an seine mehr als 500.000 Abonnenten. Nicht einmal das Glas der Schule sei zu Bruch gegangen - es habe keine direkten Treffer gegeben und daher sei auch nicht klar, wie es zu 600 Toten gekommen sein soll. Statt den Feind zu vernichten, "wurde eine ausschließlich mediale Vergeltungsoperation erfunden", schreibt der Blogger.

    Kreml-Propaganda zielt nur auf russische Bevölkerung

    Doch warum verbreitet Russland im Krieg immer wieder Meldungen, die teilweise offensichtlich falsch sind?

    Entscheidend ist, dass die große Mehrheit der russischen Bevölkerung zwar die Propagandameldung kennt, aber nicht die Berichte, die die Behauptung widerlegen.

    Gerhard Mangott, Politikwissenschaftler an der Uni Innsbruck

    "Es soll also nicht die ukrainische oder die westliche Öffentlichkeit mit Propaganda beeinflusst werden, sondern das heimische Publikum", erklärt Osteuropaexperte und Politikwissenschaftler Gerhard Mangott von der Uni Innsbruck.

    Expertin: Kreml braucht Erfolgsmeldungen

    Die russische Propaganda folgt also einem alten, bewährten Muster, so sieht es auch Russland-Expertin Sarah Pagung von der Körber-Stiftung: Werden Behauptungen aufgestellt, die teils auch sehr leicht als falsch zu entlarven sind, setze Russland damit erst mal ein Narrativ in die Welt, an dem sich andere abarbeiten müssten, so Pagung.

    Auch, wenn die Nachricht an sich falsch ist, selbst, wenn man das aufklärt – damit reproduziert man die Nachricht trotzdem erst mal. Wenn auch nur ein bisschen was hängen bleibt von der falschen Behauptung, kann es sich für Russland schon lohnen.

    Russland-Expertin Sarah Pagung

    Moskau brauche dringend Erfolgsmeldungen, insbesondere nach den verheerenden Verlusten durch den ukrainischen Silvester-Angriff. Dass selbst russische Militärblogger die Kreml-Propaganda verurteilen, sei auch nichts Neues, so Pagung: Zwar habe es von dieser Seite auch zuvor schon häufig Kritik an der Militärführung gegeben. Aber auch hier gelte: "Die durchschnittliche russische Bevölkerung erreicht das eher nicht."
    Und selbst wenn: Für die Bevölkerung sei es auch nichts Außergewöhnliches, dass es von der Regierung eine offizielle Version gibt – und dazu auch widersprüchliche Meldungen von anderen Quellen, erklärt Pagung.

    Die Russen haben sich diese Art 'Informations-Schizophrenie' gewöhnt. Das ist ganz normal.

    Russland-Expertin Sarah Pagung

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