Behindertenwerkstätten: Warum sie unter Mindestlohn zahlen
Unter Mindestlohn:Warum Behindertenwerkstätten so wenig zahlen
von Christiana Ennemoser
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Entgelte in Werkstätten für Menschen mit Behinderung sind sehr niedrig. An den Werkstätten liegt das nur bedingt. Verbände und Politik wollen die Gesetze dazu jetzt ändern.
Mitarbeiter in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderungen (Archiv)
Quelle: dpa
Für Tobias Koch ist die Lage klar: "Es gibt hier Gutes und es gibt hier Schlechtes." Vor 15 Jahren kam er in die Nieder-Ramstädter Diakonie (NRD), um dort in einer Werkstätte für Menschen mit Behinderungen - kurz WfbM - zu arbeiten.
Agentur für Arbeit vermittelt Menschen in Werkstätten
Denn die Agentur für Arbeit hatte ihn als "nicht weitervermittelbar" eingestuft. Der Grund: eine leichte Lernschwäche, zudem ist Koch auf einen Rollstuhl angewiesen.
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Für Koch war diese Empfehlung der Agentur ein Vorteil, denn mit dem Wechsel in die Werkstätten der Nieder-Ramstädter Diakonie (NRD) erhielt er direkt alle notwendigen Unterstützungsmittel und Beratungsleistungen, die er für mehr Selbstständigkeit benötigt. Dazu zählten ein elektronisch steuerbarer Rollstuhl und die für ihn erforderlichen Pflegeleistungen während der Arbeitszeit.
Tobias Koch in einer der Werkstätten der NRD.
Quelle: ZDF
WfbM-Entgelte weit unter Mindestlohn
In den Werkstätten der NRD wurde Koch gefördert, er hat schnell dazu gelernt. Heute arbeitet er im Bereich Digitalisierung: Hier werden Papierunterlagen gescannt und strukturiert gespeichert, so dass für die Auftraggeber ein digitales Archiv entsteht.
Quelle: imago
Auftrag der Werkstätten ist, die Beschäftigten so zu rehabilitieren, dass sie eine Anstellung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt finden können.
Wer in eine Behindertenwerkstatt vermittelt wird, entscheiden in der Regel die Agentur für Arbeit und entsprechende Bildungsträger. Die Empfehlung für Werkstätten erhalten Menschen mit Unterstützungsbedarf, "die wegen Art oder Schwere der Behinderung nicht, noch nicht oder noch nicht wieder auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt beschäftigt werden können" (Quelle: SGB IX).
Den Beschäftigten in den Werkstätten stehen aufgrund ihrer Einschränkungen umfassende Arbeitnehmerschutzrechte zu: So hängt beispielsweise ihre wöchentliche Arbeitszeit von ihren Möglichkeiten ab, sie dürfen unentschuldigt der Arbeit fernbleiben, können nicht gekündigt werden und haben bereits nach 20 Jahren Anspruch auf eine Erwerbsminderungsrente.
Laut Gesetz werden die Einrichtungen als "Werkstätten für behinderte Menschen" bezeichnet. Daraus ergibt sich das Kürzel "WfbM", das deshalb auch die Träger der Werkstätten und die Bundesarbeitsgemeinschaft der Werkstätten verwenden.
Viel Geld erhält er für seine Vollzeitbeschäftigung nicht: Gerade mal 280 Euro zahlt ihm seine Werkstätte pro Monat. Damit liegt Koch sehr weit unter dem gesetzlichen Mindestlohn.
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Ein höheres Entgelt hat für Beschäftigte in den Werkstätten jedoch gleich zwei Haken: Zum einen sind etwa ein Viertel von ihnen auf Grundsicherung angewiesen, weil ihre finanziellen Verhältnisse nicht reichen, um ihre Betreuungs- und Pflegekosten abzudecken. Die Grundsicherung kappt dann alle Einnahmen, die über einem bestimmten Entgeltsatz liegen.
Gesetz regelt Einkommenshöhe in Werkstätten
Zum anderen müssen die Werkstätten das Entgelt ihrer Beschäftigten selbst erwirtschaften. Das ist gesetzlich vorgeschrieben, erläutert Konstantin Fischer von der Bundesarbeitsgemeinschaft der Werkstätten für Menschen mit Behinderungen (BAG WfbM).
Demnach müssen die Werkstätten mindestens 70 Prozent der Erlöse aus ihrem Arbeitsergebnis an ihre Beschäftigten ausschütten. Die restlichen Produktionserlöse sind für Investitionen in die Verbesserung der Werkstätten, neue Anlagen und ähnliches vorgesehen.
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Wirtschaftslage spüren auch die WfbM
Auch die NRD zahlt 100 Prozent der Erlöse ihrer WfbM an die dort Beschäftigten aus, sagt deren Vorstand Thorsten Hinz. "Aufgrund unserer Gemeinnützigkeit und der gesetzlichen Vorgaben können wir nur sehr begrenzt Überschüsse erwirtschaften, die dann auch ganz den Beschäftigten und der WfbM zugutekommen."
Ein zusätzliches Problem ist die derzeitige Auftragslage für die Werkstätten: Aufgrund der Wirtschaftskrise kämpften sie, so Hinz, fortwährend um neue Aufträge, die langfristig und nachhaltig wirkten - und um neue Betätigungsfelder für ihre Beschäftigten.
Menschen mit Einschränkungen müssen Überschüsse erwirtschaften
Es gibt noch eine weitere Erschwernis: Die Werkstätten haben ihre Gewinne mit Menschen zu erzielen, die aufgrund ihrer Einschränkungen im leistungsgetriebenen allgemeinen Arbeitsmarkt nicht bestehen können.
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Durch ihre sehr unterschiedlichen Einschränkungen könnten sie auch nur sehr unterschiedliche Arbeitsergebnisse erbringen, gibt NRD-Werkstattteamleiter Tobias Neumann zu bedenken.
Fischer: Politik muss höhere Entgelte in WfbM wollen
"Das Finanzierungssystem der Werkstätten insgesamt ist extrem reformbedürftig", stellt auch Konstantin Fischer fest. Die BAG WfbM habe der Bundesregierung deshalb Vorschläge unterbreitet, auch für die Erhöhung der Entgelte der Werkstattbeschäftigten.
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Vorstellbar wäre, so Fischer, ihnen ein am Mindestlohn orientiertes Einkommen oder ein Grundeinkommen zu zahlen - zusätzlich zu dem Entgelt, das die Werkstätten erwirtschaften. Dieses dürfe dann auch nicht auf die Grundsicherung angerechnet werden. Die Gesellschaft bzw. der Staat seien gefragt:
Entgeltpläne von Ministerium auf Eis
Die Überlegungen des zuständigen Bundesministeriums für Arbeit und Soziales gehen in eine ähnliche Richtung.
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Laut einer Sprecherin plane das Ministerium die "Einführung eines steuerfinanzierten Werkstattgeldes und eine Anrechnungsfreiheit des Entgelts aus der Werkstattbeschäftigung bei der Grundsicherung". Ob und wann die Neuregelung kommt, hängt allerdings vom Ausgang der Bundestagswahl ab.
Für Werkstattbeschäftigte wie Tobias Koch heißt es daher vorerst weiter: Hoffen und Warten auf ein am Mindestlohn orientiertes Entgelt. Seine Hoffnung: dass sich zeitnah "politisch stark etwas ändert".