Menschen mit Behinderung:Inklusion im Jobmarkt: Wie Hürden überwinden?
von Alice Pesavento
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Für Menschen mit Behinderung ist es schwerer geworden, Arbeit zu finden. Was sind die Gründe für Rückschritte bei der Inklusion im Arbeitsmarkt und was kann dagegen getan werden?
In Deutschland leben 3,1 Millionen Menschen mit einer schweren Behinderung, die zwischen 15 und 65 Jahre alt sind.
Quelle: Omago
Mit Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention vor 15 Jahren hat sich Deutschland verpflichtet, umfassende Chancengleichheit für Menschen mit Behinderung zu schaffen. Laut dem jüngsten Inklusionsbarometer hat sich die Situation von Menschen mit Schwerbehinderung auf dem Arbeitsmarkt wieder verschlechtert.
So ist die Zahl der Arbeitslosen mit Schwerbehinderung im vergangenen Jahr deutlich gestiegen: Im Oktober 2024 waren 177.280 von ihnen ohne Job - ein Anstieg um sieben Prozent gegenüber dem Vorjahr. Im Jahresdurchschnitt waren 165.725 Menschen mit schwerer Behinderung arbeitslos - die Quote lag bei elf Prozent und damit fast doppelt so hoch wie die allgemeine Arbeitslosenquote.
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Längere Suche nach einem Job
Menschen mit Behinderung suchen durchschnittlich mehr als drei Monate länger nach einer neuen Beschäftigung als Arbeitslose ohne Behinderung. Auch die Zahl der Kündigungen nahm laut Inklusionsbarometer deutlich zu. Gingen beim Integrationsamt im Jahr 2022 noch rund 17.000 Kündigungen ein, so waren es 2023 rund 21.000.
Der Anteil der Arbeitgeber, die alle Pflichtarbeitsplätze besetzen, ist auf dem niedrigsten Stand seit Erscheinen des ersten Inklusionsbarometers im Jahr 2013. Trotz Beschäftigungspflicht arbeitet in 46.000 Unternehmen in Deutschland kein einziger Mensch mit Behinderung - das sind 1.000 Firmen mehr als im Vorjahr.
In Deutschland gibt es laut Inklusionsbarometer 3,1 Millionen Menschen mit einer schweren Behinderung, die zwischen 15 und 65 Jahre alt sind - also in einem Alter, in dem sie arbeiten könnten. Rund 1,1 Millionen dieser Menschen sind bei Firmen beschäftigt, die mindestens 20 Angestellte haben. Schätzungsweise rund 200.000 Menschen mit Behinderung sind bei kleineren Firmen tätig.
Abzüglich junger Menschen, die noch zur Schule gehen, und älterer Menschen in Frührente sind circa 1,6 Millionen Menschen mit Schwerbehinderung, die nicht in den Arbeitsmarkt integriert sind. Quelle: dpa
Obwohl Unternehmen über Fach- und Arbeitskräftemangel klagen, ist der Zugang zum Arbeitsmarkt für Menschen mit Behinderung also noch immer schwer. Der Vorsitzende des Allgemeinen Behindertenverbands in Deutschland e.V., Marcus Graubner, kann diese negative Entwicklung bestätigen. Er beobachte in den vergangenen Jahren einen "Rückgang des inklusiven Gedankens" in Deutschland.
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"Jede Menge Vorurteile" bei Arbeitgebern
Laut Graubner stoßen solche Menschen bei der Arbeitssuche noch immer auf "jede Menge Vorurteile" - sowohl von potenziellen Kollegen als auch von Arbeitgebern. Oft werde an ihrer Leistungsfähigkeit gezweifelt. Ebenfalls glaubten viele Arbeitgeber, dass sie ihr Unternehmen umfassend umbauen müssten, um Jobs für Menschen mit Behinderung zu schaffen. Stattdessen gebe es jedoch Fördermöglichkeiten, um Arbeitsplätze bedarfsgerecht umzubauen.
Auch die allgemeine negative wirtschaftliche Entwicklung hemmt die Inklusion. "Der wirtschaftliche Abschwung trifft vor allem das verarbeitende Gewerbe, also Industrie und Handwerk, wo Menschen mit Schwerbehinderungen überdurchschnittlich häufig beschäftigt sind", sagt Karolin Hiesinger, Ökonomin am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung.
Zudem hängen Behinderungen sehr stark mit dem Alter zusammen. In den höheren Altersgruppen gibt es überdurchschnittlich viele Menschen mit einer Behinderung. Für die sei es wiederum besonders schwierig, aus der Arbeitslosigkeit herauszukommen, so Hiesinger.
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Instrumente wie die Ausgleichsabgabe, die Unternehmen monatlich zahlen müssen, wenn sie zu wenig Menschen mit Behinderung beschäftigen, zielen vor allem auf eine Bestrafung von Betrieben ab. Hiesinger schlägt vor:
Solche Belohnungen könnten finanzieller Natur sein, aber auch anerkennende Maßnahmen wie der Inklusionspreis könnten positive Wirkung zeigen.
Inklusion durch digitale Kompetenzen stärken
Auch Marcus Graubner wünscht sich mehr positive Anreize zur Förderung von Inklusion. Er bemängelt, dass Behinderung prinzipiell negativ besetzt sei und immer die vermeintlichen Defizite der betroffenen Personen hervorgehoben würden. Behinderung bedeute oft auch "ein besonderes Einfühlungsvermögen, ein besonderes Engagement".
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Außerdem seien viele Menschen mit Behinderung sehr affin im digitalen Bereich, da sie täglich technische Hilfsmittel nutzen. Für die Digitalisierung sei das "eine große Chance, die wir beidseitig nutzen müssen".
Firmen und Betroffene besser zusammenbringen
Es müsse mehr getan werden, um Menschen mit Behinderung und Unternehmen zusammenzubringen. "Viele Unternehmen klagen über zu wenig geeignete Bewerberinnen und Bewerber mit Schwerbehinderung", sagt Hiesinger.
Zudem brauche es mehr Aufklärung in den Unternehmen. Laut Marcus Graubner hält sich dort beispielsweise noch immer das "Märchen von der Unkündbarkeit von Menschen mit Behinderung", dass Betroffenen bei der Arbeitssuche im Weg stehe.
Menschen mit Schwerbehinderung haben auf dem Arbeitsmarkt einen besonderen institutionellen Schutz. Zu diesem zählen unter anderem:
Der besondere Kündigungsschutz, laut dem sie nur mit vorheriger Zustimmung des Integrationsamtes gekündigt werden dürfen.
Die Beschäftigungspflicht, wonach Unternehmen ab 20 Mitarbeitenden verpflichtet sind, mindestens fünf Prozent der Arbeitsplätze mit Menschen mit Behinderung zu besetzen. Wenn sie diese Quote nicht erfüllen, müssen die Unternehmen eine monatliche Ausgleichsabgabe zahlen.
Quelle: Bundesministerium der Justiz
Der Vorsitzende des Allgemeinen Behindertenverbands in Deutschland bemängelt, dass viele Unternehmen diese Ausgleichsabgabe nutzen würden, um sich von der Verantwortung, Menschen mit Behinderung in ihrem Unternehmen anzustellen, "freizukaufen". Um die Inklusion in den Arbeitsmarkt zu fördern, wurde die Ausgleichsabgabe zu Beginn des Jahres angehoben.
Das Geld, was durch die Ausgleichsabgaben eingenommen wird, wird dann wiederum dafür verwendet, um Unternehmen bei der Schaffung von barrierefreien Arbeits- und Ausbildungsplätzen zu unterstützen. Außerdem werden Menschen mit Behinderung mit diesem Geld unterstützt, beispielsweise indem technische Arbeitshilfen, Weiterbildungen und weitere Leistungen gefördert werden.
In "einfach Mensch" erzählen Menschen mit Behinderung und sozial Benachteiligte selbst. Die Reportage entsteht in Zusammenarbeit mit der "Aktion Mensch".