Massenprotest in Ungarn:Wie kann Orban das überstehen?
von Britta Hilpert
|
Weil sie einen Verurteilten in einem Pädophilie-Prozess begnadigte, musste Ungarns Staatspräsidentin zurücktreten. Tausende protestierten, heute äußerte sich erstmals Viktor Orban.
Der ungarische Premierminister Orban hielt seine jährliche Rede zur Lage der Nation in Budapest - in diesem Jahr unter besonderer Aufmerksamkeit.
Quelle: Reuters
Gleich zu Beginn seiner "Rede zur Lage der Nation" kommt Orban zur Sache. Man merkt, er will das Thema abräumen. Die Nation sei gespalten wegen des Skandals. Ein neuer Präsident soll sie einen. Und:
Zwei Politikerinnen hatten sich aufgrund des Skandals aus dem politischen Leben zurückziehen müssen, die Präsidentin und die damalige Justizministerin. Es waren die einzigen Frauen in Orbans erster Riege. Er schickt ihnen diesen Trost hinterher: Sie hätten mehr Würde als alle Führer der Linken zusammen. Von seiner eigenen Verantwortung spricht er übrigens nicht.
Beim Sondergipfel der EU-Staats- und Regierungschefs hat der ungarische Ministerpräsident Orban klein beigegeben. Lange hatte er zusätzliche Hilfen für die kriegsgebeutelte Ukraine blockiert.
01.02.2024 | 5:47 min
Skandal trifft den Kern von Orbans Propaganda
Noch gestern Abend gingen rund 50.000 Menschen in Budapest auf die Straße. Manche zum ersten Mal, wie sie sagen, manche kamen sogar mit ihren Kindern. Denn der Skandal rührt an den Kern der ungarischen Identität: die Familie.
Anlässlich des Papstbesuches im April letzten Jahres wurden in Ungarn 22 Verurteilte begnadigt. Darunter war ein Mann, der versucht hatte, die Zeugen in einem Pädophilen-Prozess von ihrer Aussage abzubringen. Dank der Intervention von Orban nahestehender Personen und dank der Unterschrift der damaligen Justizministerin Varga und der Staatspräsidentin Novak kam er vorzeitig frei.
In Ungarn muss über Begnadigungen nicht informiert werden. So kam es, dass erst zehn Monate später die Öffentlichkeit davon erfuhr, als eines der wenigen verbliebenen unabhängigen Nachrichten-Portale, "444.hu", es publizierte. Die Folge: Massenproteste, Rücktritt der Staatspräsidentin, Rückzug auch der damaligen Justizministerin.
In Ungarn muss über Begnadigungen nicht informiert werden. So kam es, dass erst zehn Monate später die Öffentlichkeit davon erfuhr, als eines der wenigen verbliebenen unabhängigen Nachrichten-Portale, "444.hu", es publizierte. Die Folge: Massenproteste, Rücktritt der Staatspräsidentin, Rückzug auch der damaligen Justizministerin.
Und damit auch an den Kern der Politik Orbans - der "Schutz der ungarischen Familie" ist das Propaganda-Band, das seine Politik zusammenhält: Die starke finanzielle Förderung kinderreicher Familien, die strikte Ablehnung von Immigration, und sogenannte "Familienschutzgesetze", die Pädophilie und Homosexualität entgegen der Grundrechte gleichsetzen.
Und so ist es nicht nur peinlich, dass Orban auf seinem wichtigsten politischen Feld eine Niederlage erleidet. Es erschüttert das Regime. Aber ist es auch gefährlich für Orban?
Tasende nahmen bei einer Demonstration nach dem Rücktritt der Staatspräsidentin Katalin Novak und der ehemaligen Justizministerin Judit Varga in Budapest teil.
Quelle: Reuters
Orban-Regierung machte Begnadigung im Stillen möglich
Heute, bei seiner jährlichen Rede zur Lage der Nation, äußert er sich erstmals zur Sache, und er gibt sich tatkräftig: Neue und strengere Gesetze wird es geben und einen schnellen Wechsel an der Staatsspitze. Vielen Unzufriedenen wird das nicht reichen.
Denn an den Kern des Problems, nämlich die mangelnde Transparenz und Gewaltenteilung im System Orban, gehen die Maßnahmen nicht heran. Sie erst hat es möglich gemacht, dass ohne Debatte Personen begnadigt werden, deren Freilassung nicht im öffentlichen Sinne ist. Einigen Ungarn, sogar Orban-Anhängern, ist das nun bewusst geworden.
Die EU hat sich auf eine Hilfszahlung für die Ukraine geeinigt, nach langem Widerstand Ungarns. Wie die Zustimmung von Ministerpräsident Orban zustande kam, berichtet Ulf Röller.01.02.2024 | 1:02 min
Insider wendet sich gegen Orban
Orban hat es heute vermieden, auf ein wichtiges Detail des Skandals einzugehen: Dem Ex-Ehemann von Judit Varga, Peter Magyar, ist der Kragen geplatzt.
Jahrelang war er selbst Teil des inneren Kreises, nun distanziert er sich von Orban: "Auch wenn in diesem Land viel Gutes passiert", so sagt es Peter Magyar, "so kann es nicht weiter gehen."
Orban schweigt heute dazu, spricht lieber - wie üblich - über Ungarns wirtschaftliche Erfolge, über Brüssels "Scheitern der Sanktionspolitik" und seine Unterstützung für Donald Trump. "Wir wollen, dass Trump gewinnt und Frieden schafft in Osteuropa", so ruft er am Ende seiner Rede und verspricht, dass Ungarn EU-Ratspräsidentschaft im zweiten Halbjahr unter dem Motto steht: "Make Europe Great Again!"
Ungarn hat den EU-Hilfen für die Ukraine zugestimmt. Wie die Einigung aussieht, erklärt ZDF-Korrespondent Ulf Röller.01.02.2024 | 1:08 min
Risse im Fundament der ungarischen Regierung
Seine geladenen Gäste applaudieren natürlich. Auf der Straße spüren wir mehr Zurückhaltung. Aber keiner, den wir an diesem Nachmittag ansprechen, meint, dass der Skandal Orbans Position gefährde.
Enttäuscht sei sie, sagt Dia. "Aber seine Machtposition ist nicht in Gefahr. Seine Partei ist in Ungarn sehr stark. Andere Parteien zählen nicht." Auch Gabor Bolacs meint, dass sich nicht viel ändern wird, obwohl es mehr als nur den Skandal gäbe, um auf die Regierung wütend zu sein, wie die hohe Inflation oder die Wirtschaftslage.
Es ist ein Skandal, der Risse zeigt im Fundament der ungarischen Regierung. Aber keiner, der das System zum Einsturz bringt. Die Frage ist, ob Orbans Reparaturmaßnahmen ihm ausreichen, um die Risse zu kitten, um das Fundament zu stabilisieren.
Britta Hilpert ist Leiterin des ZDF-Studios in Wien.
Mit Unterstützung von Lale Ohlrogge
Mehr zu Viktor Orban
Verdacht auf Grundrechtsverstöße:EU eröffnet neues Verfahren gegen Ungarn
Analyse
Ungarns Blockade beim EU-Gipfel:26 gegen Orban - neue Konstellation in Europa
Florian Neuhann, Brüssel
mit Video
Ungarns Regierungschef Orban:"Sicherheitsrisiko" oder nur "streitlustig"?
Stefanie Reulmann, Berlin