Interview
UN-Botschafter zur Weltordnung:"Das System hat sein Verfallsdatum erreicht"
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Martin Kimani, der Botschafter Kenias bei den Vereinten Nationen spricht über den Zerfall der Weltordnung. Zudem erklärt er, was der Westen nicht verstehe.
Martin Kimani erklärt im Interview, warum das internationale System keine Zukunft hat, warum es die Krisen in Gaza und der Ukraine nicht lösen kann und nennt Fehler des Westens.03.12.2023 | 10:14 min
Martin Kimani, der UN-Botschafter Kenias gilt als selbstbewusster Vertreter nicht nur seines Landes, sondern einer Generation von Diplomaten und Politikern des globalen Südens. Er erklärt, warum sie nicht mehr bereit sind, die von den Supermächten aufgestellten Regeln der internationalen Ordnung einfach hinzunehmen.
Lesen Sie hier das gekürzte Interview und sehen Sie es in voller Länge (in englischer Orginalsprache) oben im Video.
ZDFheute: Botschafter Kimani, Sie hatten zusammen mit ihrem kanadischen Kollegen in der UN-Generalversammlung einen Zusatzartikel zu einer Gaza-Resolution eingebracht. Mit diesem Artikel wollten Sie auch den brutalen Terrorangriff der Hamas verurteilen. Doch die Verurteilung der Hamas fand in der Weltgemeinschaft keine Mehrheit.
Martin Kimani: Das hat mich nicht überrascht, aber ich war enttäuscht. Ich glaube aber, dass die, die dagegen gestimmt oder sich enthalten haben, nicht pro Hamas sind, sondern der Meinung waren, dass das Leid der Palästinenser so groß ist, dass es alleine im Fokus stehen sollte.
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ZDFheute: Was passiert da gerade, was ist die Dynamik dahinter?
Kimani: Ich habe das vor einiger Zeit im Sicherheitsrat in einer Rede zur russischen Invasion der Ukraine gesagt: Der Multilateralismus liegt im Sterbebett. Und was bei der Abstimmung jetzt passiert ist, ist ein weiterer Sargnagel.
Und sie waren nicht nur still, sondern blockierten buchstäblich Versuche, Resolutionen im Sicherheitsrat zu verabschieden. Es herrschte also das Gefühl, dass wir an eine Mauer der Doppelmoral gestoßen waren - ein Gefühl, dass es darauf ankam, auf welcher Seite man stand.
ZDFheute: Ist der Vorwurf der Doppelmoral denn aus Ihrer Sicht eine legitime Kritik?
Kimani: Daran habe ich keinen Zweifel. Ich habe gesehen, wie die internationale Gemeinschaft auf verschiedene Krisen und Konflikte reagiert. Und ich habe ihre Unfähigkeit gesehen, gleichermaßen zu reagieren, je nachdem, woher man kommt.
Wenn Sie ein armer Afrikaner sind, der unter den Auswirkungen des Klimawandels leidet und Ihre Regierung argumentiert, dass die Verantwortlichen mehr tun, um ihren Verpflichtungen nachzukommen: Nun, dieses Argument trägt wirklich nicht so viel Gewicht, wie wenn ein wohlhabender Europäer oder Nordeuropäer oder Westler von derselben Art von Schaden betroffen wäre. Dann würden Sie eine völlig andere Reaktion sehen.
Wir haben es während Covid gesehen. Aber ich sage das nicht nur, um mich zu beschweren. Ich denke, es ist wirklich eine Reflexion einer Machtordnung.
Kimani: Nein, ich würde sagen: Das System, in dem wir leben, hat sein Verfallsdatum erreicht. Ein System, bei dem man die Hegemonialmacht von der einen Seite der Welt gegen die von der anderen Seite der Welt austauscht und die, die dazwischen stehen, sich entscheiden müssen, welcher Macht-Pol für sie spricht. Für uns Kenianer, Afrikaner ist das kein nachhaltiges Modell mehr.
ZDFheute: Wie muss die internationale Ordnung denn reformiert werden, um sich an die neuen Realitäten anzupassen?
Kimani: Reformen begrenzen uns bereits auf die Logik des bestehenden Systems. Das System aber muss nicht nur reformiert werden, es muss transformiert werden. Und es muss so transformiert werden, dass es für die Menschen funktioniert. Es muss so transformiert werden, dass es für arbeitende Menschen funktioniert. Und das sind sowohl arbeitende Deutsche als auch arbeitende Kenianer.
ZDFheute: Wie soll eine solche Transformation erreicht werden bei den mächtigen Spielern, die ein Interesse am Erhalt des Systems haben?
Kimani: Ich glaube, wir unterschätzen unsere eigene Fähigkeit, unsere Systeme zu transformieren. Und das übrigens nicht zufällig.
Deshalb müssen diejenigen, ob Diplomaten oder Führungspersönlichkeiten, die es anders sehen, mit Bürgern und in ganz unterschiedlichen Koalitionen zusammenarbeiten.
ZDFheute: Sie sprechen hier von einem neuen Modell. Das überrascht uns. Wir sind in dieses Gespräch mit der Perspektive gegangen, dass die Welt doch gerade gezwungen wird, sich zwischen zwei konkurrierenden Modellen zu entscheiden - dem demokratischen und dem autoritären.
Kimani: Ich war kürzlich in Nigeria und wissen Sie: Wenn wir die aktuellen Trends bis zum Jahr 2075 projizieren, dann wird Nigeria eine Wirtschaftskraft von 13 Billionen Dollar haben. Es wird eine der zehn größten Volkswirtschaften der Welt sein. Viele der Länder, die heute zu den Top Ten gehören, werden herausgefallen sein. Viele europäische Länder werden nicht mehr zu den Top Ten gehören. Die globalen Volkswirtschaften werden Indonesien, Indien und Nigeria sein.
Es fällt mir schwer zu glauben, dass all diese jungen Afrikaner, ganze Länder, in denen die Mehrheit der Bürger unter 20 Jahre alt ist, von Ländern mit alternden Bevölkerungen aufgehalten werden. Ich glaube nicht, dass sie die ideologische und kulturelle Vitalität haben werden, um Hegemonen irgendeiner Art zu sein.
ZDFheute: Was verstehen zum Beispiel Länder wie Deutschland oder die USA nicht, wenn es um die Perspektive Kenias oder der Afrikanischen Union geht?
Kimani: Ich denke, viele Menschen hören die Statistiken, lesen die Statistiken. Aber aufgrund der Art, wie die Welt heute organisiert ist, fällt es ihnen schwer, die Implikationen wirklich zu begreifen.
Ein gutes Beispiel dafür ist die europäische Migrationspolitik.
Die Frage wird nur sein, ob sie als Wirtschaftsflüchtlinge kommen oder als Touristen, Studenten oder Arbeiter? Unsere Zukunft ist eng miteinander verflochten, ob wir es mögen oder nicht - entweder in Konflikt und Krise mit Leichen, die im Mittelmeer angespült werden oder es wird sich als Chance und Reichtum für uns alle erweisen. Aber Europa wird Afrika nicht zurücklassen können.
Das Interview führten Scott Filipski und Johannes Hano
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