Erdbeben in der Türkei: Wiederaufbau unter Erdogan
Ein Jahr nach Erdbeben in Türkei:Wiederaufbau: Was hat Erdogan erreicht?
von Jörg Brase
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Am 06. Februar 2023 verloren durch das Erdbeben in der Türkei mehr als 53.000 Menschen ihr Leben. Betroffen war auch die Stadt Antakya, wo die Katastrophe noch allgegenwärtig ist.
In der Provinz Hatay werden neue Wohngebäude nach dem Erdbeben im vergangenen Jahr gebaut. (Aufnahme 02.02.2024)
Quelle: Reuters
"Den Geruch der Leichen habe ich bis heute in der Nase," sagt Zubeyde Kahraman. Sie steht an der Stelle, an der das Haus stand, in dem ihre Schwester Zeynep lebte. Tagelang hatte Zubeyde um Hilfe gefleht, um ihre Schwester und deren Familie aus den Trümmern zu bergen.
Denn Zeynep lebte. Ihre Hilferufe waren zu hören. Mehr als zwei Tage dauerte es, bis Bergungstrupps vor Ort waren. Weitere zwei Tage arbeiteten Mitarbeiter der deutschen Hilfsorganisation I.S.A.R. an Zeyneps Rettung, versorgten die Verschüttete mit Wasser und holten sie nach über 100 Stunden, eingeklemmt zwischen den Trümmern, tatsächlich lebend raus.
Doch es war zu spät. Wenige Stunden nach ihrer Bergung starb Zeynep völlig entkräftet im Krankenhaus. Ihr Mann und die drei Kinder wurden später tot gefunden.
Der Wiederaufbau in den zerstörten Gebieten geht kaum voran. Noch immer sind Menschen obdachlos, leben zwischen Trümmern, deren Giftstoffe Luft und Wasser belasten31.01.2024 | 6:12 min
Provinzhauptstadt Antakya besonders von Erdbeben betroffen
Die Geschichte der Schwestern Kahraman ging damals um die Welt. Es ist eine Geschichte von so vielen, die man auch heute noch hört, wenn man mit Menschen in der Provinz Hatay spricht.
Die Katastrophe nach dem Erdbeben ist allgegenwärtig. In den Seelen der Menschen, die überlebten. In den Straßen der Provinzhauptstadt Antakya, in denen bis heute die Trümmer noch nicht vollständig geräumt sind. Zu groß war das Ausmaß der Zerstörung. Und fast die Hälfte aller Toten und der zerstörten Gebäude hatte die am stärksten betroffene Provinz Hatay zu beklagen.
Erdogan macht Wahlkampf mit Wiederaufbau
Als Präsident Recep Tayyip Erdogan damals versprach, die Region innerhalb eines Jahres wieder aufzubauen, war klar, dass es sich dabei um Wahlkampf handelte und das Ziel nicht so schnell zu erreichen sein würde. Das Spiel mit der Hoffnung war erfolgreich. Ende Mai wurde Erdogan wiedergewählt.
Doch auch danach machte die Regierung Druck. Es sollte schnell gehen. In den ersten zehn Monaten flossen fast 12 Milliarden Euro in den Wiederaufbau. Über 80.000 Container wurden aufgestellt. Allein in Hatay wurde binnen neun Monaten ein 400-Betten-Krankenhaus aus dem Boden gestampft, Straßen wurden neu geteert, Brücken repariert, Wohnsiedlungen in höher gelegenen Bezirken Antakyas errichtet, außerhalb der erdbebengefährdeten Zone.
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Kritik an mangelndem Krisenmanagement
Kurz vor dem Jahrestag besucht Präsident Erdogan die Erdbebenregion. In Hatay übergibt er die Schlüssel der ersten fertiggestellten Wohnungen an die neuen Besitzer. "Ich hoffe, dass dieses neue Zuhause seinen Bewohnern Glück und Wohlstand bringen wird," sagt Erdogan und kündigt an, dass bis Jahresende insgesamt 200.000 Wohnungen übergeben werden sollen.
Gegen Kritik wegen mangelnden Krisenmanagements und fehlender Transparenz bei der Planung des Wiederaufbaus wehren sich Erdogans Regierung und die türkische Agentur für Katastrophenschutz AFAD mit Verweis auf das Ausmaß der Zerstörungen. "Eine Delegation aus Japan meinte, die Schäden zu beseitigen, sei nicht unter vier Jahren zu schaffen," erzählt uns Hatays Provinzgouverneur Mustafa Masatli. "Wir können sagen, dass wir es in nur einem Jahr geschafft haben."
Klagen wegen Baumängel: Rechtsanwalt kritisiert Beweisvernichtung
Doch auch der Zeitdruck, mit dem die türkische Regierung den Wiederaufbau forciert, stößt auf Widerspruch. Rechtsanwalt Ecevit Altan vertritt viele Erdbebenopfer, die wegen offensichtlicher Baumängel Bauunternehmen und Genehmigungsbehörden verklagen wollen. Es seien viele Beweise vernichtet worden, sagt Altan.
Auch Zubeyde Kahraman hofft, dass die, die für den Tod ihrer Schwester Zeynep verantwortlich seien, verurteilt werden. "Das einzige, was mir Trost spenden kann, ist Gerechtigkeit," sagt sie. Doch ob sie diesen Trost erfahren wird, ist ungewiss. Nach dem großen Beben von Istanbul im Jahr 1999, bei dem über 17.000 Menschen starben, wurde kein Mitarbeiter der Genehmigungsbehörden je zur Verantwortung gezogen.