Sinti und Roma: Die vergessenen Opfer des Holocausts
Interview
Sinti und Roma in der NS-Zeit:Die vergessenen Opfer des Holocaust
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Im Holocaust wurde eine halbe Million Sinti und Roma von den Nationalsozialisten ermordet. Christian Pfeil wird damals im Ghetto geboren und überlebt. Ein Interview.
Heute ist der europäische Gedenktag für die in NS-Vernichtungslagern ermordeten Sinti und Roma. Etwa eine halbe Million Sinti und Roma wurden im Holocaust ermordet.02.08.2024 | 1:41 min
Erst seit 2015 gibt es den Europäischen Holocaust-Gedenktag für Sinti und Roma. Dabei wurden während des Zweiten Weltkriegs 500.000 Angehörige dieser Minderheit europaweit ermordet. Alleine in der Nacht vom 2. auf den 3. August 1944 wurden im Vernichtungslager Auschwitz die letzten 4.300 Sinti und Roma, vor allem Frauen, Kinder und ältere Menschen, von den Nazis in die Gaskammern getrieben.
Das Lager war im Februar 1943 errichtet worden. Die hygienischen Umstände waren katastrophal, es gab kaum Nahrung, viele Krankheiten. Im August wurden die letzten noch lebenden Angehörigen der Minderheit in Auschwitz getötet. Das Leid der Sinti und Roma stand lange im Schatten. Christian Pfeil ist Überlebender und hat mit ZDFheute darüber gesprochen.
ZDFheute: Ihr Start ins Leben begann in einer der dunkelsten Zeiten der Geschichte. Können sie mir was über ihre Geburt erzählen?
Christian Pfeil: Ich weiß nicht, wann ich geboren worden bin. Es war in Lublin im Ghetto. Es soll nach Weihnachten gewesen sein und es muss furchtbar kalt gewesen sein. Man sagt 1943, 1944. Der Tag ist auch nicht festgelegt worden. Im Lager gab es keine Geburtsurkunde.
Christian Pfeil ist deutscher Sinto. Rassistisch abgewertet als "Zigeuner" wird seine gesamte Familie aufgrund der Nürnberger Rassengesetze von den Nationalsozialisten in die Zwangs- und Konzentrationslager Nazi-Deutschlands deportiert. Viele Familienmitglieder werden im Vernichtungslager Auschwitz ermordet.
Doch die Kernfamilie Pfeil überlebt, wie ein Wunder, gemeinsam fünf Jahre in Ghettos und Konzentrationslagern. 1944 wird Christian selbst im Ghetto Lublin in Polen geboren, so klein, dass man ihn als Säugling in eine alte Zigarrenkiste legt. Doch auch Christian überlebt – trotz allem.Aber auch nach dem Krieg ging die Diskriminierung weiter. Christian Pfeil nennt es die "zweite Verfolgung".
ZDFheute: Sie selbst waren noch sehr klein und die Folter und der Verlust von Angehörigen hat sich sicher auch auf Ihr Leben ausgewirkt. Inwiefern?
Pfeil: Das ist eine Sache, die sehr weh tut - wenn in der Familie darüber gesprochen wurde, wie viele Angehörige in Auschwitz und in den anderen KZ vergast und ermordet worden sind, darunter auch viele Kinder.Wenn ich nach Auschwitz gehe, dann sehe ich immer an den Tafeln die vier Namen von meinem Onkel und den Kindern, die ermordet worden sind in Auschwitz.
ZDFheute: Was haben Ihre Eltern denn aus den Lagern berichtet? Was waren die einschneidendsten Erlebnisse?
Pfeil: Der Hunger, Angst zu erfrieren oder ermordet zu werden. Das war immer das Schlimmste. Und die vielen Schläge, die sie bekommen haben. Und dann auch Scheinerschießungen, davon hat mein Vater oft erzählt. Das waren die schlimmsten Sachen, die man je erlebt hat.
ZDFheute: Trotzdem hat Ihre Mutter es geschafft, trotz des Hungers und der Kälte, Sie als kleines Baby sozusagen am Leben zu halten. Wie hat sie das gemacht?
Pfeil: Sie hat mich zur Strafarbeit immer mitgenommen.In den Wintermonaten musste sie mich neben sich in den Schnee legen. Sie wollte mich nicht in der Baracke lassen, weil die Kapos haben die Kinder dann oft erschlagen, wenn sie anfingen zu schreien - und haben sie dann ermordet oder weggeschmissen. Und dann kamen die Eltern zurück und ihre Kinder waren weg. Und so hat meine Mutter mich immer mitgenommen.
Bild 1: Fotos aus Auschwitz-Birkenau
Diese Fotos zeigen einen Transport ungarischer Juden aus Tacovo: Es ist dem Schatten nach etwa 11.00 Uhr. Der SS-Fotograf Bernhard Walter geht über die Dächer der noch verschlossenen Zugwaggons, in denen die Juden aus Tacovo warten. Links ein bereits „abgefertigter“ Transport. Ein Großteil der Menschen aus diesem Transport befindet sich in diesem Moment wahrscheinlich in der Auskleide oder den Gaskammern der Krematorien II und III im Bildhintergrund. Die später zum Tode bestimmten aus Tacovo werden dagegen zu den Krematorien IV und V gehen.
Quelle: Yad Vashem
ZDFheute: Am 2. August wird dieser 80. Jahrestag begangen. Das Leid der Sinti und Roma wird nochmal gewürdigt. Was bedeutet Ihnen das?
Pfeil: Das bedeutet mir sehr viel, weil der 80. Jahrestag ein sehr, sehr wichtiger Tag für die Gesellschaft und für die Mehrheitsgesellschaft ist, dass sie immer wieder daran erinnert werden, was für ein Leid die Mehrheitsgesellschaft uns damals zugefügt hat.
Und das muss mehr in die Öffentlichkeit getragen werden.
Auch Dislo Benjamin Harter hat Diskriminierung erfahren. Er setzt sich als Kommunalpolitiker gegen Antiziganismus ein. 19.07.2021 | 1:54 min
ZDFheute: Was ist Ihnen da wichtig, der Gesellschaft mitzugeben?
Pfeil: Ich möchte erstens auf das Leid und die Verfolgung der Sinti und Roma aufmerksam machen. Dann möchte ich auf die heutige Situation aufmerksam machen, die auch noch sehr, sehr schlecht ist. Die Sinti und Roma werden heute immer noch benachteiligt. [Ich möchte,] dass die Gesellschaft uns irgendwie in einer Weise auch akzeptiert und dass wir angesehen werden wie normale deutsche Bürger auch.
An dem Interview waren Natalie Steger, Leiterin des ZDF-Studio Warschau, und Julia Schröter beteiligt.
Bund und Länder bündeln ihre Maßnahmen gegen Antiziganismus und setzen dafür eine ständige Kommission ein. Diese soll helfen, Sinti und Roma in Deutschland effektiver zu schützen.