Ein Wochenende im Ex-Sowjetknast im lettischen Karosta
Geschichte besser verstehen?:Ein Wochenende im Ex-Sowjetknast
von Natalie Steger
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Im lettischen Karosta, ehemaliger Marine-Stützpunk der Sowjets, kann man die Vergangenheit nachleben. Stundenlanger Drill, danach übernachten auf dem Holzbrett. Wer macht sowas?
In einem ehemaligen Militärgefängnis in Lettland lassen sich Teilnehmer durchdrillen und spüren, was die Sowjetvergangenheit mit dem aktuellen Krieg in der Ukraine zu tun hat.02.08.2023 | 6:23 min
Das Wetter ist eklig an diesem Samstagabend im Sommer in Karosta. "Guten Abend, Entschuldigung, ich habe die Extremtour gebucht", mit diesen Worten schlägt ein junger Mann auf.
Am Ende sind es fünf Teilnehmer, die im ehemaligen Militärgefängnis der Sowjets ihr Wochenende verbringen wollen. Und wohl nicht wirklich eine Ahnung haben, was mit ihnen passieren wird – und ob das das Geld wert ist.
Antreten und Strammstehen: "Alle werden bestraft!"
"Ich habe was Interessantes gesucht", sagt der Lette Janis, "und da fiel mit das vor die Füße." Seine Frau Gita, noch bester Laune: "Mein Mann hat mir das zum Geburtstag geschenkt. Romantisches Wochenende, hahaha!"
Der Kommandant kommt. In Uniform. Alle stehen schon ein bisschen stramm. "Gibt es Erkrankungen, gesundheitliche Schwierigkeiten?", fragt Einers, er wolle später keine Beschwerden bei den Liegestützen hören. Gita wird nervös: "Liegestütze konnte ich noch nie!"
Und dann: Antreten zur Extremtour: Stramm stehen, Kniebeuge, Liegestütze, Kommandos, Anschreien, Bestrafung. "Alle werden bestraft", blafft der Kommandeur sie an, "wenn einer so ein Idiot ist wie Tomas". Wieder Liegestütze. Gita kämpft. Sie hat Sandalen an. Es regnet im Ostseesommer. Gelacht wird gar nicht. Alle sind sofort tief drin im Spiel.
Welchen Einfluss hat Russland heute noch im Baltikum, wie groß ist die Sorge vor dem ehemaligen Besatzer? Zu sehen in der Reportage unserer Korrespondentin Natalie Steger:
Die Heimatliebe im Baltikum ist groß. Doch der Gedanke an eine Wiederholung der russischen Besatzung ist beängstigend, denn ihre Unabhängigkeit möchten sie nicht noch einmal verlieren. 10.08.2023 | 32:52 min
Alte Sowjetzeiten erlebbar machen
Nach dem ersten Drill: ab in die Zelle, alles für die Nacht vorbereiten. Gita kommt ins Grübeln: "Was uns der Kommandant erzählt hat, die Geschichten, das hat mich echt nachdenklich gemacht - über unsere dunkle Zeit der Geschichte." Sprich: die Sowjetherrschaft in Lettland. Nur unser Kameramann darf die Übung verfolgen, an mich die klare Ansage: keine Fragen, damit die angespannte Atmosphäre nicht gestört wird.
Nach einer Stunde traue ich mich, diesen scheinbar fiesen Kommandanten doch etwas zu fragen. Warum das Ganze, um Himmels willen? Seine Antwort: "Es ist jetzt anders, solche Fragen zu beantworten. Denn seit Februar 2022 haben viele Kollegen ihre Uniform geändert - von sowjetisch zu neutral. Weil wir mit beiden Regimen (Anm. d. Red.: dem russischen und dem sowjetischen) nichts zu tun haben wollen. Schon gar nicht glorifizieren."
Aber, so sagt er weiter, die Geschichte könne man besser begreifen mit solch einer krassen Erfahrung. Gita vergleicht:
Sich wie ein Insasse in einem Militärgefängnis behandeln lassen? Das machen Touristen in Lettland freiwillig.
Quelle: zdf
Um Mitternacht ist der Drill vorbei
Drei Stunden Drill, bleischwere Munition transportieren: Sie schnaufen, sie scheitern, man leidet mit. Teilnehmer Andre erinnert das an die Ukraine. Er habe gefühlt, wie schwierig es für die Soldaten dort sein muss, eine 40 Kilo schwere Granate zu tragen und ihr Land zu verteidigen.
Kurz vor Mitternacht, zieht mich der Kommandant plötzlich ins Spiel. Ab die Wand, an eine Linie, das Kommando ungeduldig - und ich mache tatsächlich mit. Irgendwie kommt man da nicht raus. Ein merkwürdiges Gefühl.
Dort, wo Russland an die EU grenzt, ist die Abschottung vom Westen besonders deutlich spürbar.10.08.2023 | 16:16 min
An der Ostsee treffen Welten aufeinander:
Kurz nach Mitternacht. Offizielles Ende. Doch die Truppe bleibt devot. "Ja Kamerad", antworten sie weiter dem Kommandaten. Die Nacht in der Zelle, Schimmel, Feuchtigkeit, Holzbrett als Bett.
Am nächsten Morgen: Gitas Gedanken drehen sich immer noch um die Russen in Lettland früher und heute in der Ukraine:
Ist das schräg, zynisch - oder gerade nicht, weil man die aktuelle Lage besser versteht? Ein Antwort finde ich so schnell nicht.