Heute zeigt sich, worum es beim Streit um die so genannte Justizreform in Wahrheit geht: nämlich um den Kern der demokratischen Verfassung des Staates Israel.
Der Oberste Gerichtshof muss entscheiden, ob die Streichung der so genannten "Angemessenheitsklausel" durch die Knesset rechtens ist. Das klingt nur nach "Justizreform", ist in Wahrheit aber eine tiefe Verfassungskrise.
"Angemessenheit" bedeutet nicht weniger als verfassungsgemäß
Ein Wort vorweg zur Verfassung Israels: die gibt es nicht in ausgeschriebener Form, sondern nur als eine Sammlung sogenannter "Grundgesetze", die einen verfassungsrechtlichen Rahmen vorgeben. Es gibt auch kein oberstes Verfassungsgericht, sondern eben den Obersten Gerichtshof, der aber quasi als Verfassungsgericht fungiert.
Die religiös-nationalistische Regierung mit ihrer Mehrheit in der Knesset will die Rechte des Obersten Gerichtshofs einschränken. Der soll nicht mehr darüber befinden dürfen, ob Entscheidungen von Kabinettsmitgliedern oder Verwaltungsbehörden "angemessen" sind.
So wie der Oberste Gerichtshof praktisch Verfassungsgericht ist, genauso bedeutet "Angemessenheit" im Prinzip nicht weniger als verfassungsgemäß. Denn die Prüfung auf Angemessenheit umfasst eine Vielzahl von Rechtsvorschriften wie zum Beispiel Gleichberechtigung, Menschenrechte, Verhältnismäßigkeit, Anhörung von Betroffenen und so weiter.
Im September will sich Israels Oberstes Gericht mit der Justizreform befassen. Ministerpräsident Netanjahu warnt: Ein Eingreifen des Gerichts könne zu einer "Art Spirale" führen.
Demokratisches Prinzip der Gewaltenteilung wackelt
Dem Obersten Gerichtshof soll also untersagt werden, in wichtigen Bereichen die Verfassungsmäßigkeit von Regierungshandeln zu überprüfen. Damit
legt die Regierung die Axt an die Gewaltenteilung, die in demokratischen Staaten auch nicht von parlamentarischen Mehrheiten einfach ausgehebelt werden darf.
Die Ausgangslage ist klar: Generalstaatsanwältin Gali Baharav-Miara hat dem Gerichtshof offiziell empfohlen, das Gesetz der Knesset niederzuschlagen.
"Wegen des schwerwiegenden Einflusses des Gesetzes auf das öffentliche Leben und die ernsthaften Konsequenzen für die Gewaltenteilung, die Herrschaft des Rechts und die individuellen Rechte," habe sie keine Wahl, als zu empfehlen, die Gesetzgebung für null und nichtig zu erklären.
Auf der anderen Seite hat die Regierung erkennen lassen, dass sie eine Abweisung des Gesetzes nicht akzeptieren werde. Finanzminister Smotrich von der rechtsextremen Partei "Religiöser Zionismus" drohte dem Gericht gar: "Wagen sie es nicht, Grundgesetze für ungültig zu erklären!" Damit spricht Smotrich dem Gerichtshof schlichtweg die Kompetenz ab, die verfassungsgebenden "Grundgesetze" zu kontrollieren.
Verfassungsrechtler: "Zutiefst undemokratisch"
Das ist nicht nur ein weiterer Bruch der Gewaltenteilung, sondern auch zutiefst undemokratisch, wie der Verfassungsrechtler Aeyal Gross von der Tel Aviv University erklärt. Natürlich sei der Gerichtshof befugt, über "Grundgesetze" und Ergänzungen dazu wie die "Angemessenheitsklausel" zu urteilen.
"Also, wenn wir das akzeptieren, dass wenn wir etwas ein "Grundgesetz" nennen, es keine Überprüfung mehr durch die Justiz gibt, dann könnte die Regierung ja alles einfach "Grundgesetz" nennen und die schrecklichsten Dinge hineinschreiben. Mit der Begründung: "OK, das ist immun gegen eine rechtliche Überprüfung, weil wir es Grundgesetz nennen." Ich glaube nicht, dass das eine akzeptable Position ist."
Mit der Einschränkung des Obersten Gerichtshofs entfalle in Israel die einzige Kontrollinstanz gegenüber der Regierung, so Politologe Peter Lintl (SWP) zur Justizreform.24.07.2023 | 4:18 min
Droht eine Verfassungskrise? Und wer verhaftet wen?
Doch wo soll das enden, wenn das Gericht die Streichung der "Angemessenheitsklausel" als verfassungswidrig beschließt? (Übrigens nicht unter Berufung auf die Angemessenheitsklausel, denn die bezieht sich nur auf Regierungsbeschlüsse, nicht auf ein Gesetz, wie in diesem Fall.) Wenn die Regierung diesen Beschluss ignorieren würde, käme es dann zu ultimativen Verfassungskrise, zu einem Schisma?
Schließlich kann nur eine Seite verfassungsrechtlich im Recht sein. Lautet die Frage dann: Wer verhaftet wen? Lässt die Regierung die Richter verhaften oder die Richter die Regierung? Kommt es zu einem Putsch?
Bis zur Entscheidung droht eine Spaltung der Gesellschaft
Professor Gross wiegelt ab, so schnell würden auch Israelis nicht schießen. Zunächst müsse es dazu kommen, dass die Regierung dem Spruch der obersten Richter zuwiderhandelt. Das heißt, das Oberste Gericht müsste einen konkreten Fall von Regierungshandeln, zum Beispiel die Ernennung eines Ministers, Beamten oder gar Richters als "unangemessen" beurteilen. Würde die Regierung ein solches Urteil ignorieren, dann allerdings wäre die Staatskrise da:
"Wir werden wohl nicht gleich morgen oder kurzfristig den Konflikt erleben: Wer verhaftet wen? Aber es könnte in Zukunft geschehen. Und ich hoffe, dass alle Behörden wissen werden, dass sie die Rechtsprechung des Gerichtshofes zu respektieren haben. Und wissen, dass auch die Regierung an das Recht gebunden ist und dass alle Behörden des Staates einem Urteil des Obersten Gerichtshofes gehorchen werden."
Mit einer Entscheidung wird erst in einigen Wochen oder Monaten gerechnet. In der Zwischenzeit werden weiterhin wöchentlich mehr als hunderttausend Menschen gegen die Regierung auf die Straße gehen, die Spaltung der Gesellschaft geht immer tiefer. Immer öfter fällt in der öffentlichen Diskussion das Wort "Bürgerkrieg". Soweit muss es nicht kommen. Doch eine Lösung zeichnet sich nicht ab, denn in der Frage der Gewaltenteilung kann es nur ein Ja oder ein Nein geben. Entweder oder.
Michael Bewerunge ist ZDF-Studioleiter in Tel Aviv.