85. Jahrestag: Der Transport jüdischer Kinder nach England
Lord Alf Dubs:Britische Flüchtlingspolitik "schäbig"
von Hilke Petersen, London
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Lord Alf Dubs flüchtete als Kind vor den Nazis. Er kam per Kindertransport nach England. Nun ist er 90, sitzt als Lord im Oberhaus und kritisiert die britische Flüchtlingspolitik.
Gegen den Plan, Flüchtlinge nach Ruanda abzuschieben, protestiert auch die Bevölkerung (Symbolbild).
Quelle: AP
Wenn Lord Alf Dubs auf Großbritanniens Umgang mit Geflüchteten schaut, zieht er ein vernichtendes Fazit:
Dubs war in den 70er- und 80er-Jahren Abgeordneter der Labour-Partei für einen Londoner Wahlbezirk und zog in den 90ern als Lord ins britische Oberhaus ein. Mit Flüchtlingspolitik hat er sich einen Namen gemacht, sich in Großbritannien eingesetzt für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Ein solcher war er auch mal.
Flucht vor Nationalsozialisten
Mit sechs Jahren besteigt er einen Zug in Prag - allein. Wenig später, im März 1939, wird die deutsche Armee die Stadt besetzen. An die harten Holzbänke im Zugabteil kann sich Dubs erinnern. Und dass die größeren Kinder, die den Ernst der Lage schon besser verstehen konnten als er, den Moment feierten, als der Zug über die Grenze nach Holland rollt: raus aus dem Machtbereich der Nazis.
Er habe eher nach Windmühlen und Holzschuhen Ausschau gehalten. Denn das hatte seine Mutter ihm vorher über Holland erzählt. Und, dass er in England seinen Vater treffen würde: Tatsächlich finden sich die beiden am Londoner Bahnhof Liverpool Street, wo der Zug am 2. Dezember 1938 ankommt. Als Jude war Vater Hubert bereits zuvor vor den Nazis nach England geflohen.
Auch Dubs österreichische Mutter würde bald folgen.
In der Dokumentation zum Film "Die Kinder von Windermere", über Jugendliche, die bei Kriegsende aus KZs der NS-Zeit nach England gebracht wurden, erzählen Überlebende ihre Geschichte.27.01.2020 | 43:20 min
Kindertransport als Ausweg für jüdische Familien
Familien, die solches Glück nicht haben, schicken ihre Kinder zu Pflegeeltern. Ein kleiner Koffer und zehn Reichsmark sind erlaubt auf der Reise, außerdem exakt ein Foto. Keine Spielsachen, keine Bücher. Wertsachen werden den Kindern abgenommen.
Tausendfach harte Momente für Familien, deren allein reisende Kinder am Ende oft die einzigen Überlebenden sein werden, während ihre jüdischen Eltern, Großeltern und Verwandte in deutschen Vernichtungslagern sterben. Viele, denen der Kindertransport das Leben rettet, hören erst Jahre nach dem Ende des Krieges vom Schicksal ihrer Angehörigen.
Wer kein Glück hat mit den englischen Pflegeeltern, kann sich durchaus als billiges Dienstpersonal in einem englischen Haushalt wiederfinden. Oder auch in Flüchtlingslagern, als Aufnahmekapazitäten überschritten sind.
Britische Aufnahmebereitschaft damals und heute
Insgesamt aber zeigen sich die Briten während des Zweiten Weltkriegs offen, wollen den jüdischen Kindern aus drohender Not helfen, die in Zügen aus Berlin, Prag und Wien kommen. Die britische Regierung lockert dazu die Einreisebestimmungen trotz bereits erfüllter Einwanderungsquoten. Und will damit auch Druck auf die Regierung Amerikas ausüben, ebenfalls jüdische Kinder aufzunehmen.
Wenn sich an diesem Wochenende zum 85. Mal der Jahrestag des ersten ankommenden Zuges wiederholt, treffen sich die "Kinder". Nun in hohem Alter und der erzwungenen Heimat meistens dankbar. Die Association of Jewish Refugees (AJR) organisiert seit 1941 Unterstützung für die Holocaust-Flüchtlinge. Bis heute. "Es könnte eine der letzten Gelegenheiten sein, die erste Generation, also die 'Kinder', zusammenzubringen. Zum 85. Jahrestag organisieren wir für sie ein Veranstaltungsprogramm", erzählt Michael Newman, Geschäftsführer der AJR.
Britische Politik diskutiert Abschiebungen nach Ruanda
Alf Dubs, der mit sechs allein nach Großbritannien fuhr, zieht auch flüchtlingspolitische Bilanz: Damals sei Großbritannien im Grunde eine Gesellschaft gewesen, die Menschen willkommen hieß. Heute habe es das Land mit vergleichsweise wenigen Asylbewerbern zu tun, im europäischen Vergleich ist Großbritannien auf Platz 17 von 18.
Dass die britische Regierung jetzt darum kämpft, Asylbewerber ins ostafrikanische Ruanda abschieben zu können - trotz eines Verbots durch das höchste Gericht - und dazu über einen Ausstieg aus der UN-Flüchtlingskonvention nachdenke, sei erschreckend.
Mit dem Kindertransport kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs hatte sich Großbritannien internationale Anerkennung verdient. Heute versucht sich die Regierung daran, Flüchtlinge mit aller Härte abzuweisen.
Bund und Länder suchen eine Lösung für die hohe Zahl Geflüchteter in Deutschland. Der Lösungsvorschlag von Christian Dürr (FDP) und Hendrik Wüst (CDU): das "Ruanda-Modell".
von Moritz Flocke
FAQ
Hilke Petersen ist Leiterin des ZDF-Studios London.