Wirtschaft: Armut und Entbehrung als Normalzustand
Interview
Philosoph Hanno Sauer:Armut und Entbehrung als Normalzustand
von Eva Schmidt
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Reichtum hat Ursachen, Armut ist dagegen der ungestörte Normalzustand, meint der Philosoph Hanno Sauer. Er hält Ungleichheit für ein Problem, mit dem wir lernen müssen zu leben.
Armut sei der "ungestörte Normalzustand", meint der Philosoph Hanno Sauer (Symbolfoto).
Quelle: picture alliance / Jochen Tack
ZDFheute: Sie haben ein Buch über die Anfänge der menschlichen Moral geschrieben und gehen dafür fünf Millionen Jahre zurück. Die Entwicklung der Ungleichheit ist dagegen noch relativ jung. Woher kommt sie?
Hanno Sauer: Bevor der Mensch sesshaft wurde, lebte er in gleichberechtigten Kleingruppen. Der eine konnte besser jagen, der andere besser fischen, und so ergänzte sich die Gemeinschaft auf kooperative Weise. Überschüsse gab es im Nomadenleben kaum.
Aber als der Mensch sesshaft wurde, ging es los mit Ackerbau und Viehzucht. Die Arbeit wurde systematischer und die Gemeinschaft wuchs. Und ganz entscheidend: Mit der Sesshaftigkeit war es dann auch möglich, Überschüsse zu erwirtschaften und zu lagern.
Einzelne Individuen oder kleine Eliten häuften diese an und verteidigten sie gegenüber anderen mit Macht, Gewalt und unfairen Absprachen.
Quelle: Elisa Prodöhl / Piper Verlag
...ist Philosoph und lehrt Ethik an der Universität Utrecht/Niederlande. Mit seinem Buch "Moral: Die Erfindung von Gut und Böse" war er für den Deutschen Sachbuchpreis nominiert.
ZDFheute: In allen Kulturen der Welt gibt es aber eine Aversion gegen Ungleichheit. Das sind doch eigentlich beste Voraussetzungen, sie abzuschaffen.
Sauer: Ungleichheit ist ein hartnäckiges Problem. Denn über Jahrtausende kann man eine Regel beobachten: Vorzüge sind konzentriert, Nachteile verteilt. Das heißt, die Motivation, Vorzüge zu verteidigen, ist viel höher, als gegen die Nachteile vorzugehen.
Außerdem haben Menschen, die Vorzüge genießen, meistens auch mehr Macht. Diese Regel gilt bis heute.
Nur ein Beispiel: Die Steuerprivilegien in der Luftfahrt. Davon profitiert ein definierter Kreis von Personen, die Nachteile sind aber so diffus über die gesamte Gesellschaft verteilt, dass deswegen wohl kaum jemand eine Revolution anzettelt.
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ZDFheute: Lässt sich aus der Geschichte ein Mittel gegen Ungleichheit herleiten?
Sauer: Ungleichheit ist nur sehr schwer zu bekämpfen, geschweige denn abzuschaffen, gleichzeitig aber auch äußerst beweglich.Man kann zwar den Adel aus den Palästen vertreiben oder das Vermögen umverteilen.
Das heißt aber nicht zwangsläufig, Ungleichheit zu akzeptieren, sondern sich besser auf die lösbaren Probleme von Ungleichheit zu konzentrieren. Dazu gehört zum Beispiel die Qualität öffentlicher Güter. Von sauberer Luft und öffentlichen Parks profitieren alle.
ZDFheute: Den Industrieländern ist gemein, dass sie weitgehend liberale Werte vertreten. Aber wir beobachten auch den rasanten wirtschaftlichen Aufstieg von Ländern, die diese Werte mit Füßen treten und eine ganz andere Auffassung von Moral haben, allen voran China. Viele sprechen von einem neuen Wettbewerb der Systeme. Was sagt der Moralphilosoph dazu?
Sauer: Ich glaube nicht an diese Systemkonkurrenz.
Chinas Aufstieg begann auch erst nach soziopolitischen Lockerungen. Wenn China wirtschaftlich erfolgreich bleiben will, werden die autoritären Strukturen nicht überleben können. Eine wachsende Mittelschicht wird immer mehr Liberalisierung fordern.
ZDFheute: Sie schreiben in Ihrem Buch: Reichtum hat Ursachen, Armut ist dagegen der ungestörte Normalzustand. Das klingt ernüchternd.
Sauer: In der Menschheitsgeschichte gab es fast nie echtes wirtschaftliches Wachstum; Armut und Entbehrung sind der Normalzustand.
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