Opioide: Droht eine deutsche Krise wie in den USA?

    Süchtig auf Rezept:Droht eine deutsche Opioid-Krise?

    von M. Christoph, M. Hübner, D. Kollig, K. Takasaki
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    Seit Jahren werden in Deutschland auffällig viele Opioide verordnet. Experten warnen vor der Suchtgefahr und kritisieren den Anstieg der Verschreibungen.

    Ein Tablettenberg von Oxycodon.
    Das Schmerzmittel Oxycodon kann unter bestimmten Umständen zur Sucht führen.
    Quelle: AP

    Hunderttausende Deutsche nehmen jedes Jahr starke Opioide, Schmerzmittel mit hoher Suchtgefahr. Pro Kopf sind es zwischenzeitlich mehr als in den USA, wo die Regierung bereits 2017 den nationalen Gesundheitsnotstand ausgerufen hat.
    Dabei sollen Opioide in erster Linie für die Bekämpfung von Tumorschmerzen oder starken Schmerzen am Lebensende eingesetzt werden. Trotzdem wurden in den vergangenen Jahren immer mehr Opioide auch für Beschwerden wie Rückenschmerzen, Arthrose-Schmerzen oder andere chronische Schmerzen verordnet. Das zeigen aktuelle Recherchen von ZDF frontal, Der Spiegel, Der Standard und Tamedia.

    Opioid ist ein Sammelbegriff für synthetische Substanzen, die häufig aufgrund ihrer schmerzlindernden Wirkung als verschreibungspflichtige Arzneistoffe eingesetzt werden. Im zentralen Nervensystem können sie Schmerzsignale unterdrücken. Zu bekannten Opioiden gehören neben Fentanyl auch Heroin und Morphin.

    Verschreibungszahlen von Opioiden verdreifacht

    Eine exklusive Analyse von "WIdO", dem wissenschaftlichen Institut der AOK, ergab: Von den rund 26 Millionen Versicherten der AOK, Deutschlands größter gesetzlicher Krankenkasse, erhielten im Jahr 2022 etwa sechs Prozent mindestens ein Opioid. Unter den Patienten, denen Opioide langfristig verordnet wurden, hatte die Mehrheit keine Krebsdiagnose.
    Melanie sitzt auf dem Fußboden im Badezimmer. Vor ihr auf dem Boden liegen Medikamente.
    Schmerzen werden gerne schnell bekämpft. Mit Medikamenten, die oft heftige Nebenwirkungen haben.07.11.2023 | 29:30 min
    Dem jüngsten Opioid-Bericht der Handelskrankenkasse (HKK) aus dem Jahr 2022 zufolge haben sich in den vergangenen 30 Jahren die Verschreibungszahlen von Opioiden in Deutschland mehr als verdreifacht.
    Opioidhaltige Schmerzmittel wurden nicht nur für Tumorpatienten verschrieben, wo diese Medikamente lebenswichtig sein können, sondern wurden vermehrt auch bei Rückenschmerzen verordnet. Bei diesem Leiden gibt es allerdings kaum Belege, die einen Langzeitnutzen von starken Opioiden zeigen.
    Fentanyl-Pillen, die von Beamten der Drug Enforcement Administration gefunden wurden, aufgenommen am 27.09.2022 in New York (USA)
    Fentanyl gewinnt auch in Deutschland an Boden. Tests in Drogen-Konsumräumen zeigen nun: Das Opioid wird teilweise Heroin beigemischt - ein brandgefährlicher Mix.15.02.2024 | 9:12 min

    Viele Opioide von Hausärzten verordnet

    Die meisten starken Opioide in Deutschland werden von Hausärzten und Internisten verschrieben. Den Anstieg erklären Expertinnen auch mit dem Marketing von Pharmakonzernen, die dafür werben, Opioide auch gegen chronische Schmerzen wie Rückenschmerz oder Arthrose zu verordnen.
    Verbindliche Regeln für die Verordnung von Opioiden gibt es nicht. Laut der sogenannten LONTS-Leitlinie können Opioide auch für Schmerzen wie Rückenschmerzen verschrieben werden, letztlich muss es der verordnende Arzt entscheiden.

    ... hat ZDF frontal gemeinsam mit dem SPIEGEL, dem Standard in Österreich, Tamedia in der Schweiz, The Examination, einem auf Gesundheitsrecherchen spezialisierten Investigativnewsroom, Daten aus zahlreichen Ländern ausgewertet und mit Dutzenden Experten, Wissenschaftlern und Ärzten über den Opioidverbrauch in Europa gesprochen.

    Beteiligt waren außerdem: die gemeinnützige journalistische Organisation Finance Uncovered, die brasilianische Onlinezeitung Metrópoles, die italienische Redaktion Investigative Reporting Project Italy (IRPI), das chinesische Exilmedium The Initium und die Washington Post.

    Es werde oft fälschlicherweise suggeriert, dass dank Opioiden niemand mehr Schmerzen leide müsse, sagt die Marburger Professorin Annette Becker, die selbst als Allgemeinmedizinerin arbeitet.
    Nur bei zwölf Prozent der Patienten führten sie überhaupt zu einer relevanten Verbesserung des Schmerzempfindens. Indes ist das Abhängigkeitsrisiko bei Opioiden hoch: Ein Drittel der Patienten, denen Opioide zur Behandlung chronischer, nicht krebsbedingter Schmerzen verschrieben wurden, entwickelten Anzeichen eines problematischen Opioidkonsums. Einer von zehn werde abhängig, heißt es in einer Studie von 2024.
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    Im letzten Jahr sind so viele Menschen in Deutschland an Drogen gestorben wie nie zuvor. Ein Überblick.21.07.2024 | 1:32 min

    "Wir befinden uns in Europa in einer Situation wie in den USA vor fünfzehn Jahren"

    Andrew Kolodny, Mediziner und Forscher an der Brandeis-Universität aus den USA, sieht die Entwicklung in Deutschland kritisch. Er war einer der ersten, die vor der US-Opioidkrise warnten, in Folge derer bis heute Hunderttausende Menschen starben.
    Auch in Deutschland starben mehr als die Hälfte der 2.227 Drogentoten im Jahr 2023 an Opioiden. Die Statistik weist neben opioidhaltigen Schmerzmitteln auch Drogen wie Heroin als Todesursache aus.
    Es sei "frustrierend" zu sehen, wie andere Länder zuließen, dass Opioide auch hier auf dem Vormarsch seien. Man wisse bereits, welche Risiken Opioide bergen und zu welchen Konsequenzen ihr Konsum führe.

    Wenn nichts unternommen wird, wird Europa, auch Deutschland, dem amerikanischen Beispiel folgen.

    Andrew Kolodny, Mediziner und Forscher Brandeis-Universität

    Notfallsaniäter Tobi Schlegl mit verschränkten Armen vor alter Lagerhalle
    Fentanyl, Tilidin, Codein: Warum Deutschland ein Opioid-Problem hat.19.04.2023 | 9:12 min
    "Es zeigt sich, dass wir in Europa in die gleiche Situation geraten wie in den USA vor 15 Jahren", warnt auch Andrea Burden, Professorin für Pharmakoepidemiologie an der ETH Zürich.

    Wir können nicht davon ausgehen, dass wir hier in Europa klüger sind als die Amerikaner. Wenn wir nicht auf die Zeichen achten und handeln, werden wir uns als dumm erweisen. Viel dümmer.

    Andrea Burden, Professorin für Pharmakoepidemiologie ETH Zürich

    In einer Studie zeigte sie, dass sich in der Schweiz die Verkaufszahlen von Medikamenten mit Opioiden in den letzten zwanzig Jahren verdoppelt haben. Auch die Zahl der Opioidvergiftungen ist dort um 177 Prozent gestiegen.
    Eines der Hauptprobleme sei aber, dass nicht ausreichend Zahlen zu den Folgen des hohen Opioidkonsums erhoben würden.
    Alufolie mit Drogen
    Alle sieben Minuten stirbt in Amerika jemand an einer Überdosis Fentanyl. Wie weit sind wir von US-amerikanischen Verhältnissen entfernt? Wir sprechen mit Franziska Schneider.05.03.2024 | 5:08 min

    Bundesregierung hat keine Opioid-Zahlen

    Tatsächlich liegen auch der Bundesregierung "keine Daten zur Anzahl der opioidabhängigen Schmerzpatientinnen und -patienten vor", wie aus einer aktuellen Antwort auf eine Kleine Anfrage der Linkspartei hervorgeht. Auch lägen keine Daten zu den genauen Gründen der Verschreibungen vor.
    Burkhard Blienert, Drogenbeauftragter der Bundesregierung, beharrt indes darauf, dass es in Deutschland "im Moment nicht dieses Problem in dem Umfang wie in Amerika" gebe. Das Gesundheitsministerium erklärt, dass in Deutschland "die geltenden rechtlichen Rahmenbedingungen" einer Entwicklung wie in den USA entgegenstünden.

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