Migranten-Bootstragödie: Familien warten in Ungewissheit
Nach Bootstragödie um Migranten:Quälendes Warten für Geflüchteten-Familien
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Die Familien der vermissten Migranten, die auf dem vor Griechenland gekenterten Schiff waren, warten in quälender Ungewissheit auf Lebenszeichen. In Ägypten weint ein ganzes Dorf.
Zwei Brüder umarmen sich nach dem Bootsunglück vor Griechenland.
Quelle: Reuters
Als Sabah Abd Rabu Hussein zuletzt von ihrem Sohn hörte, plante er, in ein Boot zu steigen, das ihn von Libyen aus nach Europa bringen sollte. Das war vor gut zwei Wochen. "Ich hatte ihn gebeten, nicht zu gehen", sagt die ägyptische Hausfrau. "Aber er war unsere schwierigen Lebensbedingungen leid."
Der 18-jährige Jahia Saleh befand sich an Bord des alten Fischkutters, der am 9. Juni in der ostlibyschen Stadt Tobruk in See gestochen war. Er wollte nach Italien, wie viele andere junge Männer in seinem Heimatdorf im ägyptischen Nildelta.
Chance verschwindend gering, noch Überlebende zu finden
Bis zu 750 Migranten, darunter Frauen und Kinder, waren auf dem Boot, das vor Südwestgriechenland kenterte und sank, in einem der tiefsten Abschnitte des Mittelmeeres. Nur 104 Menschen wurden lebend aus dem Wasser gezogen und bis Dienstag 82 Leichen geborgen. Die Chancen, jetzt noch Überlebende zu finden, sind verschwindend gering.
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Damit ist die Schiffskatastrophe eine der schlimmsten Tragödien im Mittelmeer in der jüngeren Geschichte, und es hat viele Fragen aufgeworfen und Empörung über den Umgang europäischer Stellen mit dem Zulauf von Migranten ausgelöst.
Viele bei der Flucht festgenommen und zurückgeschickt
Wie viele andere Familien wissen Salehs Angehörige nicht, was mit ihrem Lieben geschehen ist. Die Familie ist in Ibrasch beheimatet, in der landwirtschaftlichen Provinz Scharkia im Nildelta, wo sich Wasserbüffel, Kühe und Esel die ungepflasterten Straßen mit Autos, Autorikschas und Motorrädern teilen.
Viele der jungen Männer und Teenager in der Region haben die gefährliche Reise nach Libyen gewagt, in der Hoffnung, dann auf dem Weg über das Mittelmeer Europa zu erreichen. Manche haben es nach Italien geschafft, aber zahlreiche andere wurden in Gewahrsam genommen und zurückgeschickt, wie fünf Dorfbewohner sagen. Sie alle wollen ihren Namen nicht genannt haben, aus Furcht, dass die Behörden sie ins Visier nehmen.
Sechs Vermisste nur aus einem Dorf
Ägypten, mit 105 Millionen Einwohnern das bevölkerungsreichste arabische Land, hat seine maritimen Grenzen für Migrantenboote abgeriegelt, nachdem es 2016 vor der Mittelmeerstadt Rossetta zu einem tödlichen Unglück gekommen war. Die Regierung versucht, junge Männer von illegaler Migration abzubringen, aber die Wirtschaftskrise im Land hat viele motiviert, den Versuch zu wagen - trotz der Gefahren.
Die ägyptische Botschaft in Athen sprach am Wochenende von insgesamt 43 Ägyptern, die das Unglück überlebt haben, darunter - so weit man weiß - sechs aus Salehs Heimatort, wie Verwandte sagen. "Unser Dorf ist verwundet", sagt Einwohner Sameh el-Gamal.
Sechs Monate lang hatten Salehs Eltern versucht, ihm die Reisepläne auszureden. Aber er wurde zunehmend entschlossen, als sich die Lebensbedingungen der Familie verschlechterten. Saleh half seinem Vater dabei, die Felder des kleinen Bauernhofes zu bewirtschaften und arbeitete manchmal auch als Tagelöhner, verdiente umgerechnet etwa 55 Euro im Monat. "Er wollte uns helfen", sagt Hussein, seine Mutter.
Sohn verabschiedete sich - ohne zu sagen, wohin er geht
An einem Abend Mitte Mai verabschiedete er sich von seiner Mutter, ohne ihr zu sagen, wohin er gehen wollte. Sie dachte, er würde seinen Abend mit Freunden verbringen.
Einen Tag später fanden die Eltern heraus, dass er sich mit seinem Cousin und vier anderen Männern auf den Weg nach Libyen gemacht hatte. Sein Vater und andere Verwandte setzten sich in panischer Angst mit in Libyen lebenden Landsleuten in Verbindung, die sie in Kontakt zu zwischen Ägypten und Libyen operierenden Menschenschmugglern brachten.
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Vater bietet Schleusern Geld, dass sie den Sohn zurückschicken
Er habe ihnen sogar umgerechnet 1.450 Euro angeboten, damit sie ihn zurückschickten, schildert der Vater. Aber sie hätten sich geweigert und ihm gesagt, dass er schleunigst die Rechnung für die Reise seines Sohnes bezahlen solle - umgerechnet mehr als 4.000 Euro, die dieser sich größtenteils geborgt hatte. Sein Vater zahlte schließlich, weil er nach eigenen Angaben fürchtete, dass sein Sohn andernfalls von den Schleppern gefoltert oder getötet würde.
Seit dem Unglück hat die Familie verzweifelt auf eine Nachricht über Salehs Schicksal und das der anderen Dorfbewohner gewartet. Die Ungewissheit ist qualvoll. Seine Mutter bedeckt ihr Gesicht mit den Händen und weint.
Aussagen Geretteter des Schiffsunglücks vor Griechenland widersprechen der offiziellen Behördenversion. Zudem kommen Berichte über grauenvolle Zustände an Bord ans Licht.