Schiffbruch mit Hunderten Toten:Sank das Boot bei Abschlepp-Aktion?
von Oliver Klein
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Aussagen Geretteter des Schiffsunglücks vor Griechenland widersprechen der offiziellen Behördenversion. Zudem kommen Berichte über grauenvolle Zustände an Bord ans Licht.
Hunderte Geflüchtete starben beim Bootsunglück vor Griechenland - die Zweifel an der offiziellen Version zum Unfallhergang werden größer.
Quelle: dpa
Die Schiffskatastrophe vor Griechenland mit womöglich mehr als 500 ertrunkenen Geflüchteten wirft weiter drängende Fragen auf: Wer ist für den Tod der Menschen verantwortlich? Hätten sie vielleicht gerettet werden können? Neue Schilderungen von Überlebenden und Recherchen von Journalisten stellen die offizielle Version der griechischen Behörden zum Hergang des Unglücks immer mehr infrage.
Die Küstenwache hatte erklärt, die Migranten auf dem Fischkutter hätten Hilfsangebote auf ihrem Kurs nach Italien ausgeschlagen und darauf beharrt, weiterfahren zu wollen. Es wäre viel zu gefährlich gewesen zu versuchen, Hunderte Menschen gegen ihren Willen aus einem überfüllten Schiff zu holen, so die Behörden.
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BBC-Recherchen widerlegen Behördenangaben
Doch Recherchen der BBC zeichnen ein anderes Bild: Journalisten analysierten die Bewegungen von Schiffen in der Gegend mithilfe des Ortungsdienstes marinetraffic.com. Der Fischkutter selbst wird in der Website zwar nicht angezeigt - er sendete keine Ortungssignale - dafür aber Dutzende andere Schiffe in dem fraglichen Gebiet.
Die Daten zeigen: Genau dort, wo das Migrantenboot später vermutlich sank, gab es stundenlange Aktivitäten anderer Schiffe. ZDFheute konnte die Recherchen auch mit dem Ortungsdienst shipinfo.net nachvollziehen.
Zunächst umkreisten mindestens zwei Tanker die Stelle, nachmittags die "Lucky Sailor", am Abend die "Faithful Warrior" - offenbar, um Hilfe anzubieten. Die Daten zeigen, wie später etliche weitere Schiffe zu genau dieser Stelle eilten, um Hilfe zu leisten, als der Kutter unterging.
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Fischkutter trieb offenbar stundenlang im selben Gebiet
Das spricht dafür, dass der überfüllte Fischkutter mindestens sieben Stunden lang im selben Gebiet trieb. Und es lässt Zweifel aufkommen an der offiziellen Behauptung, das Schiff sei auf einem beständigen Kurs in Richtung Italien gewesen, mit gleichmäßiger Geschwindigkeit und habe keine Probleme mit der Navigation gehabt - so jedenfalls hatten es die griechischen Behörden dargestellt.
Inzwischen spricht die Küstenwache nach Angaben von BBC-Korrespondent Nick Beake bei Twitter offenbar von einem Defekt, der das Boot zum Anhalten zwang.
Fischkutter beim Abschleppen untergegangen?
Auch Berichte von Überlebenden lassen Zweifel an der offiziellen Version aufkommen. Griechische Behörden behaupten, der Kutter sei nach abrupten Bewegungen zahlreicher Insassen ins Taumeln geraten und daraufhin havariert. Doch mehrere Gerettete sagten gegenüber Ermittlern offenbar übereinstimmend aus, dass der Fischkutter bei einem Abschleppversuch untergegangen sei.
Die Athener Zeitung "Kathimerini" zitiert die Aussage eines 23-jährigen palästinensischen Geflüchteten. Danach habe ein griechisches Schiff versucht, den Fischkutter mit einem Seil nach Griechenland zu ziehen: "Als sie Gas gaben (...), ist unser Boot gesunken", erzählt er.
Überlebender: Menschen fielen beim Abschleppen ins Wasser
Das bestätigt ein weiterer Überlebender, der Kurde Ali Scheichi: Eine Seite des Fischkutters sei bei der Abschlepp-Aktion hochgegangen und die Menschen seien ins Wasser gefallen. "Die Leute fingen an zu schreien." Es sei dunkel gewesen, jeder habe versucht, sich an anderen festzuhalten und diese herunterzuziehen, damit man selbst über Wasser blieb.
Ein mitgereister jüngerer Bruder von Scheichi kam ums Leben. Ähnliche Angaben von anderen Überlebenden machten im Internet und in syrischen Medien die Runde.
Die griechische Küstenwache steht nun mehr denn je in der Kritik. Behördenvertreter in Athen betonten, das Boot sei zu keinem Zeitpunkt abgeschleppt worden. An dem Kutter sei Stunden vor dessen Havarie für kurze Zeit nur eine Leine angebracht gewesen, hieß es. Doch schon seit Tagen steht auch die Frage im Raum, warum sich die Küstenwache dem Migrantenboot schon Stunden zuvor genähert, es aber nicht gerettet habe.
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Überlebender: Schleuser warfen Lebensmittel über Bord
Inzwischen werden immer mehr Berichte über grauenvolle Zustände an Bord des verrosteten Fischkutters bekannt: Neue Aussagen von Überlebenden deuten darauf hin, dass Frauen, Kinder und auch alle Menschen aus Pakistan generell gezwungen wurden, unter Deck zu reisen - während Männer anderer Nationalitäten auf dem Oberdeck bleiben durften. Der Laderaum wurde für Hunderte zur Todesfalle.
Scheichi schilderte dem kurdischen TV-Sender Rudaw, er habe den Schleusern 4.500 Dollar für die Reise gezahlt. "Sie sagten uns, dass wir kein Essen oder irgendetwas anderes mitnehmen sollten, weil es alles auf dem Boot geben würde." Die Lebensmittel, die die Passagiere dennoch mitbrachten, hätten die Schleuser ins Meer geworfen, auch Rettungswesten habe niemand mit sich führen dürfen, so Scheichi.
Nach anderthalb Tagen auf hoher See sei ihnen das Wasser ausgegangen. Die britische Tageszeitung "The Guardian" berichtet, dass wegen des Wassermangels bereits sechs Menschen an Bord starben - vor dem Untergang. Am fünften Tag ihrer Reise sank das Schiff.
Mit Material von AP