KPMG-Whistleblower packt aus zu Rüstungsdeals und Russland

    Exklusiv

    Russland-Sanktionen verletzt?:KPMG-Whistleblower packt aus zu Rüstungsdeals

    von Felix Klauser, Nils Metzger, Marta Orosz
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    Trotz Sanktionen bahnte ein Rüstungsunternehmen Geschäfte mit Russland an. Der Wirtschaftsprüfer KPMG sollte den Verdacht untersuchen - ein Whistleblower erhebt schwere Vorwürfe.

    KPMG Whistleblower
    Cihan Kuzkaya war forensischer Ermittler bei KPMG. Seine Aufgabe: Wirtschaftskriminalität bei Großunternehmen aufdecken und aufklären.11.07.2023 | 12:40 min
    Seine Welt ist verschwiegen und voller Geschäftsgeheimnisse. Cihan Kuzkaya war forensischer Ermittler. Seine Aufgabe: Wirtschaftskriminalität aufdecken und aufklären - nicht im Auftrag des Staates, sondern bei internen Ermittlungen im Auftrag von Großunternehmen. Doch Kuzkaya ist ausgestiegen und erhebt als Whistleblower schwere Vorwürfe gegen seinen früheren Arbeitgeber KPMG - mit 265.000 Mitarbeitern eine der größten Wirtschaftsprüfungsgesellschaften weltweit.
    2022 leitete Kuzkaya bei KPMG Deutschland eine Untersuchung zu Kontakten einer Rüstungsfirma nach Russland und möglichen Sanktionsverletzungen. Sein Vorwurf: KPMG soll dabei brisanten Hinweisen nicht ausreichend nachgegangen sein. Trotz belastender Informationen sei die Untersuchung nicht ausgeweitet worden, sagt Kuzkaya ZDF frontal.

    Mein Vorwurf gegenüber KPMG ist, dass sie nicht genug getan haben, um die Wahrheit aufzudecken. Gemessen daran, was ich in dieser Untersuchung gesehen habe, ist das Verhalten von KPMG sicherlich katastrophal.

    Cihan Kuzkaya, ehem. forensischer Ermittler bei KPMG

    Der KPMG-Whistleblower Cihan Kuzkaya blickt auf die Frankfurter Skyline
    Enttäuscht von KPMG: Whistleblower Cihan Kuzkaya hätte seine Untersuchung gerne fortgesetzt.
    Quelle: ZDF

    ZDF-Bericht löst Ermittlung bei Rüstungsfirma aus

    Ausgangspunkt der KPMG-Untersuchung war eine ZDF-Veröffentlichung im Juni 2022. Frontal berichtete über Russland-Kontakte des belgischen Unternehmens New Lachaussée (NLC), einem weltweit führenden Hersteller von Produktionsanlagen für Munition. Das in der Region Wallonien ansässige Unternehmen hatte im Oktober 2020 einen millionenschweren Kostenvoranschlag für eine neue Munitionsproduktion nach Russland geschickt. Obwohl EU-Sanktionen seit 2014 jede Lieferung von Rüstungsgütern nach Russland verbieten.
    Zwar betonte New Lachaussée damals, dass zu keinem Zeitpunkt eine ernsthafte Absicht für einen Geschäftsabschluss bestanden habe. Die Berichterstattung hatte dennoch Folgen: KPMG Belgien weigerte sich, den Jahresabschluss von New Lachaussée zu testieren.
    Die deutsche NLC-Muttergesellschaft, Magtech Europe mit Sitz in Rheinland-Pfalz, beauftragte daraufhin die forensischen Ermittler um Cihan Kuzkaya von KPMG Deutschland. Kuzkaya reiste nach Belgien, um Beweise zu sammeln und NLC-Mitarbeiter zu interviewen.

    Ermittler stößt auf weitere Russland-Kontakte

    Innerhalb weniger Tage stieß Kuzkaya auf weitere Hinweise: "Ich habe in meiner Untersuchung neben dem bekannten Kostenvoranschlag vier weitere Kostenvoranschläge identifizieren können", berichtet er.

    Ich würde nicht sagen, dass es sich hier um Scheinangebote handelt (…), sondern die Gesellschaft ist gezielt an die Sache rangegangen, hier auch tatsächlich Produkte nach Russland zu verkaufen.

    Cihan Kuzkaya, ehem. forensischer Ermittler bei KPMG

    ZDF frontal und dem internationalen Recherchenetzwerk OCCRP liegen die vier weiteren Kostenvoranschläge vor. Das finanzielle Volumen ist damit deutlich größer als bislang bekannt. Eines der vier Dokumente, datiert auf den Oktober 2020, umfasst eine Produktionsanlage für Munition für Maschinengewehre im Wert von mehr als 60 Millionen Euro.
    Kostenvoranschläge von New Lachaussée an die russische Munitionsfabrik in Tula
    Auf diese zuvor unbekannten Kostenvoranschläge an die Munitionsfabrik in Tula stießen die KPMG-Ermittler bei New Lachaussée.
    Quelle: ZDF

    Wie der bereits bekannte Kostenvoranschlag sind auch die restlichen Dokumente an die Munitionsfabrik in der russischen Stadt Tula gerichtet, rund 200 Kilometer südlich von Moskau. Die Fabriken von TulAmmo fertigen Munition unterschiedlichster Kaliber, Hunderte Millionen Schuss pro Jahr - auch für die russischen Streitkräfte.

    Wie ernst meinte es New Lachaussée mit seinen Geschäftskontakten nach Russland seit 2014? ZDF frontal liegen Informationen vor, wonach NLC-Beschäftigte intern etwa Rabatte auf ihre Maschinen diskutierten, um Angebote für ihre russischen Kontakte attraktiver zu gestalten. Einem NLC-Handelsvertreter in Russland wurden Handreichungen geschickt, welche Vorzüge von NLC-Produkten er im Vergleich mit einem italienischen Konkurrenten betonen solle.

    Frontal liegen ebenfalls Gesprächsnotizen vor, denen zufolge sich Mitarbeiter von New Lachaussée auf Moskauer Waffenmessen zwischen 2014 und 2019 mit Vertretern von Tula und anderen russischen Waffenfirmen getroffen haben sollen. "Tula wird uns eine formelle Anfrage schicken", heißt es etwa in Messenotizen vom Oktober 2019 über eine geplante Inspektion von Maschinen in Tula durch NLC-Angestellte. Tatsächlich schickte New Lachaussée im gleichen Monat einen Kostenvoranschlag für eine solche Inspektion nach Tula - mit dem Hinweis "wie beim Treffen während der 'Arms and Hunting 2019' besprochen".

    Auch die Sanktionen gegen russische Rüstungsunternehmen sind ein Thema. So schreibt der russische Handelsvertreter an den NLC-Verkaufschef per WhatsApp: "Soweit ich weiß, ist Tula gerade nicht unter US-Sanktionen. Sie haben besondere Anstrengungen unternommen, Beschränkungen zu entkommen - Anteilseigner wurden gegen gute ausgetauscht, etc. Außerdem haben sie Firmen auf der ganzen Welt, inklusive Hongkong. Bislang finden sie völlig legale Wege für solche Geschäfte."

    New Lachaussée: "Keine Lieferungen nach Russland"

    New Lachaussée schreibt auf Anfrage, dass man seit 2014 "zu keiner Zeit irgendeine Geschäftsbeziehung mit irgendeinem Rüstungsunternehmen in Russland" hatte.

    Wie der Bericht von KPMG bestätigt, gibt es keine Anhaltspunkte dafür, dass New Lachaussée direkt oder indirekt zur Lieferung von Ausrüstung für militärische Zwecke an Russland beigetragen hat.

    Stellungnahme New Lachaussée

    Man halte sich gewissenhaft an alle geltenden nationalen und internationalen Vorschriften, so New Lachaussée weiter. Belege für tatsächlich erfolgte Lieferungen von New Lachaussée an die Munitionsfabrik in Tula seit 2014 liegen dem ZDF bislang nicht vor. TulAmmo reagierte nicht auf eine Anfrage.

    Neue Munitionsproduktion für Serbien

    KPMG-Ermittler Kuzkaya stieß bei seiner Untersuchung in Belgien auch auf mehrere Großaufträge serbischer Rüstungsunternehmen für New Lachaussée. Eine Tochter des serbischen Staatskonzerns Yugoimport bestellte Maschinen mit mehr als 70 Millionen Euro Vertragswert. Für diesen Export erhielt New Lachaussée eine offizielle Genehmigung der zuständigen Regionalregierung von Wallonien.
    Die ersten Maschinen erreichten Serbien 2017, der serbische Präsident Aleksandar Vučić weihte die neue Munitionsfabrik ein. Auffällig ist: Es sind Fertigungsanlagen für exakt die gleichen sowjetischen Kaliber, zu denen New Lachaussée auch Kostenvoranschläge an TulAmmo verschickte - Kaliber, wie sie auch die russischen Streitkräfte nutzen.

    New Lachaussée brachte Serben und Russen zusammen

    Gibt es auch bei diesem Geschäft Anzeichen für eine mögliche Verbindung nach Russland? Tatsächlich stellte New Lachaussée laut Gesprächsnotizen von der Nürnberger Waffenmesse 2016 einen Kontakt zwischen TulAmmo und Yugoimport her. Damit die NLC-Maschinen für das Kaliber 12.7x108mm in Serbien mit der Produktion beginnen können, habe Yugoimport laut der KPMG-Untersuchung Munitionskomponenten, Hülsen und Geschosse, auf dem freien Markt einkaufen müssen. New Lachaussée brachte offenbar Tula als Lieferanten ins Spiel. "Tula wird 12.7x108mm Hülsen und Vollmantelgeschosse anbieten", so die NLC-Gesprächsnotizen aus Nürnberg.
    Wenige Tage darauf im März 2016 schickte eine Yugoimport-Tochter dann ein Schreiben an eine Fabrik von TulAmmo: Die Serben bedankten sich für das erfolgreiche Treffen auf der Nürnberger Messe und baten um eine Lieferung von drei Millionen Hülsen jährlich für drei Jahre - wenn möglich per Lkw. Ob solche Lieferungen tatsächlich stattgefunden haben, ist unklar.
    NLC-Geschäftsführer Ludovic Biemar bestätigte auf Anfrage, den Kontakt zwischen beiden Unternehmen hergestellt zu haben: "NLC hat dabei geholfen, Parteien zusammenzubringen, wie es unter Vertretern der gleichen Branche üblich ist."
    Der KPMG-Bericht verweist jedoch auf Medienberichte, wonach Waffenlieferungen von Yugoimport in der Vergangenheit "mutmaßlich Sanktionen und Embargos verletzt" hätten. Für den Sanktionsexperten und Anwalt Viktor Winkler ist dieses Serbien-Geschäft überaus problematisch:

    Für jeden Sanktionsexperten müssen hier die Alarmglocken angehen. Serbien ist das einzige Land in der Region, dass die Russland-Sanktionen nicht übernommen hat. Wir sind hier in einem Bereich, wo es um Risiken geht, gegen ein Gesetz zu verstoßen. Und da geht es um Warnsignale. Und die Warnsignale in diesem in diesem Fall sind so viele, wie ich es wirklich selten erlebt habe.

    Prof. Viktor Winkler, Experte für Sanktionsrecht

     KPMG weitet Untersuchungen trotz Hinweisen nicht aus

    Trotz neu entdeckter Kostenvoranschläge an Tula, zahlreicher Kontakte auf Messen und Vorbehalten gegen das Serbien-Geschäft weitete KPMG die Untersuchungen zu New Lachaussée jedoch nicht aus. Dafür hätte es der Zustimmung durch den Auftraggeber Magtech Europe gebraucht. "Wir waren an einem Punkt angekommen, wo enorm viel Belastendes ans Tageslicht gekommen ist, und der Kunde hat sich letztendlich dagegen entschieden, die Untersuchung auszuweiten", berichtet Kuzkaya.
    Porträtaufnahme von Cihan Kuzkaya, ehem. forensischer Ermittler bei KPMG, bei Interview
    Kuzkaya: "Man muss im Zweifelsfall damit leben, dass Blut an den eigenen Händen klebt"11.07.2023 | 8:06 min
    Auf Basis von Kuzkayas Untersuchungen erstellte KPMG im Juli 2022 einen knapp 40-seitigen Untersuchungsbericht für Magtech Europe. Dass New Lachaussée vier weitere Kostenvoranschläge nach Russland schickte, wird darin nicht erwähnt. Auch andere Detailfunde fehlen. Kuzkaya beschreibt einen großen Zeitdruck. Innerhalb weniger Wochen habe er die Untersuchung abschließen müssen:

    Ob ich es weiter untersucht hätte? Ja, selbstverständlich. Letzten Endes haben es die Umstände aber nicht zugelassen. Die Zeit war viel zu knapp dafür und auch die Auslegung, ob diese Kostenvoranschläge nun Bestandteile der Untersuchung sind oder nicht, wurde verschieden ausgelegt.

    Cihan Kuzkaya, ehem. Forensischer Ermittler bei KPMG

    Auch Kopien von Festplatten und Computern des Unternehmens, um sie nachträglich auswerten zu können, seien entgegen seiner Empfehlung nicht angefertigt worden. Für den Experten Winkler ist all das schwer begreiflich: "Wenn man diese Serie von Kostenvoranschlägen nicht in diesem Bericht zentral und durchaus dramatisch thematisiert, dann kann ich das nicht nachvollziehen und halte das für ein massives Problem."
    Mit all den zutage getretenen geschäftlichen Verbindungen habe man einen deutlichen Hinweis darauf, dass hier womöglich ein Sanktionsverstoß vorliege, so Winkler. Er sehe nun die jeweils zuständigen Staatsanwaltschaften in der Pflicht.
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    KPMG schweigt zu Vorwürfen

    Die KPMG-Niederlassungen in Deutschland und Belgien möchten sich zu den Vorwürfen auf Anfrage nicht äußern und verweisen auf Verschwiegenheitspflichten. Den Jahresabschluss von New Lachaussée hat KPMG Belgien zwischenzeitlich freigegeben.
    Magtech Europe antwortet per Rechtsanwalt: Die KPMG-Prüfung habe keine Nachweise für Rechtsverletzungen durch New Lachaussée ergeben. New Lachaussée habe "im relevanten Zeitraum keine Munitionsmaschinen nach Russland geliefert (…). Auch die Lieferungen an serbische Geschäftspartner (…) stellen insbesondere keine Umgehung von Sanktionen dar."
    Ein Schild an der Firmenzentrale von New Lachaussée im belgischen Herstal
    Ein Eingang zum Firmengelände von New Lachaussée im belgischen Herstal.
    Quelle: ZDF

    Wallonische Regierung widerruft Exportlizenz

    Gemeinsam mit dem belgischen Rundfunk RTBF konfrontiert ZDF frontal die wallonische Regionalregierung mit den Vorwürfen. Ihr gehören 20 Prozent von New Lachaussée.
    Den KPMG-Bericht habe Ministerpräsident Elio di Rupo erst Anfang Juli 2023 im Zuge der frontal-Recherchen erhalten, teilt eine Sprecherin mit. Der Inhalt sei "beunruhigend" und eine "vollständige Aufklärung" nötig, ob Russland-Sanktionen wirklich eingehalten wurden. Und Wallonien kündigt Konsequenzen an:

    Der Ministerpräsident setzt vorsorglich und mit sofortiger Wirkung die Exportlizenzen von New Lachaussée nach Serbien aus.

    Wallonische Regierungssprecherin

    Für den früheren KPMG-Ermittler Kuzkaya ist damit ein zentrales Ziel erreicht: Der Fall wird weiter untersucht. Einen Whistleblower-Hinweis bei der US-Aufsichtsbehörde SEC hatte er bereits 2022 eingereicht. Angesichts der russischen Verbrechen in der Ukraine hatte Kuzkaya eine klare Motivation: "Irgendwo musste ich auch einen Schlussstrich, beziehungsweise eine Grenze setzen und die ist hier überschritten. Und ja, es ist alles sehr theoretisch: aber man muss im Zweifelsfall damit leben, dass auch an den eigenen Händen Blut klebt."
    Update vom 01.08.2023: Die wallonische Regionalregierung hat eine Pressemeldung zum Untersuchungsergebnis veröffentlicht. Darin heißt es:
    "Nichts deutet darauf hin, dass es eine Umgehung der EU-Sanktionen oder des Waffenembargos gegen Russland gegeben hätte. Die Maschinen von New Lachaussée befinden sich in Serbien. Die serbischen Behörden haben alle Fragen der Delegationsmitglieder nach dem Endverbleib der Munition transparent beantwortet."
    Wallonien hat die Exportlizenzen von New Lachaussée nach Serbien wieder in Kraft gesetzt. Wohin die in Serbien produzierte Munition genau geliefert wurde bzw. geliefert werden soll, geht nicht aus der Pressemitteilung hervor. Zu den anderen Vorwürfen über Kostenvoranschläge an ein russisches Rüstungsunternehmen hat sich die wallonische Regionalregierung bislang nicht geäußert.
    Lesen Sie hier die komplette frontal-Recherche aus dem Jahr 2022, die Anlass der KPMG-Untersuchung war:

    Mehr zu den Russland-Sanktionen