Pläne der Bundesregierung: Tarifbindung vor der Renaissance?

    Pläne der Bundesregierung:Tarifbindung vor der Renaissance?

    von Mischa Ehrhardt
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    Die Quote tarifgebundener Arbeitsplätze ist in Jahrzehnten stark gesunken. Nichttarifäre Jobs sind oft unterdurchschnittlich bezahlt. Daran will die Bundesregierung etwas ändern.

    Eine Kassiererin im Supermarkt.
    Eine Kassiererin im Supermarkt.
    Quelle: picture alliance / photothek

    Nur noch knapp die Hälfte aller Beschäftigten ist in einem Unternehmen angestellt, dass der Tarifbindung unterliegt. Damit sind Firmen gemeint, in denen entweder Branchen- oder hauseigene Tarifverträge gelten. Das geht aus jüngsten Angaben des Statistischen Bundesamtes für das Jahr 2022 hervor.
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    Fast jeder zweite Arbeitnehmer arbeitet in Deutschland auf Grundlage eines Tarifvertrags. Bundesweit gibt es aber Unterschiede, berichtet ZDF-Korrespondentin Valerie Haller.02.06.2023 | 1:03 min
    49 Prozent sind ein vergleichsweise niedriger Wert - historisch ebenso wie im Vergleich zu anderen europäischen Ländern. "In den letzten Jahrzehnten ist die Tarifbindung kontinuierlich zurückgegangen", sagte Thorsten Schulten zu ZDFheute. Er ist Arbeitsmarkt- und Tarifpolitikexperte beim Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung (WSI).

    Anfang der 90er Jahre fielen etwa 80 Prozent aller Beschäftigten unter den Geltungsbereich eines Tarifvertrages. Heute sind es nur knapp die Hälfte - das ist ein massiver Rückgang.

    Thorsten Schulten, Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches Institut der Hans-Böckler-Stiftung

    Fachkräftemangel bringt Trendumkehr

    Am Einzelhandel lässt sich dieser Wandel exemplarisch darstellen: Hier ist der Anteil an tarifgebundenen Arbeitsstellen im vergangenen Jahrzehnt von niedrigen 30 auf noch niedrigere 18 Prozent gefallen. Zudem seien die Jobs in der Branche auch unterdurchschnittlich bezahlt, so die Antwort der Bundesregierung auf Anfrage der Linken.
    Auch in der Land-, Forstwirtschaft und Fischerei sind Tarifverträge selten anzutreffen - hier gelten sie nur für elf Prozent der Beschäftigten. Im Gastgewerbe, im Bereich Kunst, Unterhaltung und Erholung sowie im Grundstücks- und Wohnungswesen gilt die Tarifbindung ebenfalls nur für rund 20 Prozent oder jeden fünften Beschäftigten.
    Tarifbindung 2022 nach Branche in Prozent

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    Allerdings gibt es in einigen Branchen eine Trendumkehr - geschuldet auch dem Mangel an Arbeitskräften. "Wir haben zum Beispiel im Gastgewerbe eine regelrechte Renaissance von Tarifverträgen gesehen", so Schulten vom WSI. "Denn dort werden Fachkräfte und Arbeitskräfte gesucht."

    Die Branche weiß sehr genau, dass sie attraktiver werden muss. Da kann der Tarifvertrag ein sehr gutes Instrument sein - auch aus Sicht der Unternehmen.

    Thorsten Schulten, Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches Institut der Hans-Böckler-Stiftung

    Ost-West-Gefälle, Bundesregierung will handeln

    Wenig verwunderlich gibt es die höchste Tarifbindung nach jüngsten Daten des Statistischen Bundesamtes in Wiesbaden mit 100 Prozent in der öffentlichen Verwaltung. Es folgen Energieversorger und Erziehungs- und Bildungseinrichtungen mit noch über 80 Prozent und Finanz- und Versicherungsdienstleister, bei denen rund drei Viertel der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter tarifvertraglich beschäftigt sind.
    Auch regional gibt es durchaus Unterschiede. So exisitiert nach wie vor ein deutliches West-Ost-Gefälle bei der Tarifbindung. Im Handwerk etwa arbeiten im Westen rund 43 Prozent der Beschäftigten tarifgebunden, im Osten sind es nur 32 Prozent. Im Koalitionsvertrag der Regierung in Berlin ist explizit das Ziel formuliert, die Tarifbindung im Handwerk zu verbessern.
    Tarifbindung 2022 nach Bundesland in Prozent

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    Studie: Mehrarbeit und schlechtere Bezahlung ohne Tarif
    Hintergrund ist auch eine europäische Richtlinie im Zusammenhang mit der Einführung von Mindestlöhnen. Die hat auch Deutschland unterzeichnet. Und setzt das Ziel, dass Staaten, in denen die Tarifbindung bei unter 80 Prozent liegt, daran arbeiten sollen, die Quote wieder nach oben zu bringen. Auch ein Bundestariftreuegesetz soll in dieser Richtung wirken. Bei Arbeitgebern stoßen solche Vorhaben auf wenig Gegenliebe.

    Das Tariftreuegesetz soll die Tarifbindung stärken. Es knüpft die Vergabe öffentlicher Aufträge an die Einhaltung tarifvertraglicher Bestimmungen. Damit käme bei der Vergabe von öffentlichen Aufträgen in Zukunft nicht mehr automatisch das günstigste Angebot zum Zuge, sondern das günstigste Angebot eines Unternehmens, in dem Tarifverträge gelten. Die Schwelle für den Auftragswert will Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) bei 10.000 Euro festlegen.

    Auf Anfrage von ZDFheute im Bundesministerium für Arbeit und Soziales hieß es, aktuell befinde sich das Gesetz noch in der Abstimmung innerhalb der Bundesregierung. Ob es vor der Sommerpause noch beschlossen werden kann, bleibt offen.

    Arbeitnehmer mit Tarifbindung besser gestellt

    Für Arbeitnehmer*innen jedenfalls macht Tarifbindung einen spürbaren Unterschied. Laut einer Studie des WSI der Hans-Böckler-Stiftung müssen Beschäftigte ohne Tarifverträge pro Woche fast eine Stunde länger arbeiten als tariflich Beschäftigte. Zur Mehrarbeit hinzu kommt, dass sie dabei im Durchschnitt auch noch elf Prozent weniger verdienen.
    Auch die Frage des Urlaubsgeldes hängt maßgeblich davon ab, ob man tarifvertraglich arbeitet oder nicht. Allerdings greife bei der Bewertung von Löhnen und Gehältern der Blick nur auf das Urlaubsgeld zu kurz, sagte Enzo Weber zu ZDFheute. Er ist leitender Arbeitsmarktforscher am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit IAB. "Ob ich Geld verdiene, das Urlaubsgeld, Weihnachtsgeld oder Lohn heißt, spielt eigentlich keine Rolle."

    Man kann davon ausgehen, dass wo es kein Urlaubsgeld gibt, sich in einem wettbewerblich geregelten Arbeitsmarkt der Lohn nach oben anpasst.

    Enzo Weber, Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit

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