Putin an seinem 70. Geburtstag: Alleinherrscher unter Druck?

    Interview

    Experte über Russlands Präsident:Putin: Alleinherrscher unter Druck?

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    Osteuropa-Experte Alexander Libman erklärt zu Putins 70. Geburtstag, wie viel Rückhalt der Kreml-Herrscher noch in Russland hat - und wie ernst Putins Atomwaffen-Drohung ist.

    Wladimir Putin
    Wo steht er wirklich? Russlands Präsident Wladimir Putin
    Quelle: Sputnik/Alexei Danichev/Kremlin/Reuters

    ZDFheute: In welcher politischen Lage befindet sich Wladimir Putin am heutigen 07. Oktober, seinem 70. Geburtstag?
    Professor Alexander Libman: Es ist alles andere als eine gute politische Situation für ihn. Er hat sich mit dem Ukraine-Krieg massiv verkalkuliert. Putin, das verstehen wir jetzt viel klarer als noch vor einem Jahr, war in letzter Zeit extrem fokussiert auf die Ukraine. Jetzt scheint sich die ganze Zielsetzung, die er sich hier vorgenommen hat, in Luft aufzulösen.

    Alexander Libman, Professor an der Freien Universität Berlin
    Quelle: Alexander Libman

    ... ist Professor am Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin und Leiter der dortigen Abteilung Politik. Libman forscht unter anderem zu autoritären Regimen und konzentriert sich auf das postsowjetische Eurasien und Russland.

    ZDFheute: Sehen wir aufgrund der militärischen Rückschläge für Russland einen veränderten Wladimir Putin?
    Libman: Es ist offensichtlich geworden, dass Putin für das Erreichen seiner Ziele in der Ukraine wirklich alles zu opfern bereit ist und jede Art von Stütze für seine Macht infrage stellt. Ich spreche nicht mehr über Sanktionen, ich spreche über die Teilmobilmachung. Sie ist wirtschaftlich eine Katastrophe für Russland und eine Katastrophe für etwas, was Putin immer wichtig war: Seine Popularität unter der Bevölkerung.
    ZDFheute: Wenn Putin inzwischen zu allem bereit ist, halten Sie den Einsatz von Atomwaffen für möglich?
    Libman: Ja, leider. Ich stimme leider denen zu, mittlerweile sind es auch Angela Merkel und Joe Biden, die sagen, das müssen wir sehr ernst nehmen. Es ist wichtig, dieses Szenario zu vermeiden.
    ZDFheute: Hat der Westen unterschätzt, was Putin bereit ist, zu riskieren, um seine Ziele zu erreichen?
    Libman: Der Westen hat gedacht, dass es Tabus gibt, die Putin nicht brechen wird. Im Nachhinein wissen wir, diese Tabus gibt es nicht. Als Beispiel: Sie haben einen extrem unangenehmen Nachbarn, der Sie nicht mag und zum Beispiel auch mal die Mülltonne umkippt. Aber Sie glauben nicht, dass er Ihr Haus anzünden wird. Jetzt ist es offensichtlich so:

    Dieser Nachbar von Europa ist nicht einfach unangenehm, er ist brandgefährlich.

    Professor Alexander Libman, Osteuropa-Institut Freie Universität Berlin

    ZDFheute: Wie ist es möglich, dass Russlands Präsident unabsehbare Entscheidungen, wie den Einsatz von Atomwaffen, offenbar im Alleingang treffen könnte?
    Libman: Für Putins Regime haben wir eine genau Bezeichnung in der Politikwissenschaft, eine personalistische Diktatur, wo alles am Ende auf eine Person konzentriert ist. In einer personalistischen Diktatur werden Entscheidungen am Ende von einem Menschen gemacht.
    ZDFheute: Befürworter eines russischen Atombomben-Schlags ist Tschetschenen-Anführer Ramsan Kadyrow, den Putin gestern zum Generaloberst ernannt hat. Ein Zeichen für eine bevorstehende Eskalation?
    Libman: Ich glaube, dass man das nicht überschätzen sollte. Es ist ein reines Symbol, es ändert überhaupt nichts an der russischen Politik. Es ist einfach ein schönes Geschenk an Kadyrow zum Geburtstag (am 05. Oktober; Anm. d. Redaktion), wenn Sie so wollen. Es gab so etwas schon früher, dass einflussreiche russische Politiker zu ihrem Geburtstag plötzlich General-Uniformern anziehen konnten.
    ZDFheute: Sitzt Putin immer noch fest im Präsidenten-Sattel oder wird es für ihn langsam gefährlich?
    Libman: Es sieht wirklich sehr stark danach aus, dass ein Großteil der russischen Bürokratie mit Putin aus verschiedenen Gründen unglücklich ist. Das Problem ist, in einem System wie dem von Putin, können wir gar nicht wissen, was genau die Eliten meinen und wie genau sie handeln wollen. Sobald einzelne Vertreter der Eliten ihre Position öffentlich machen, kann Putin dagegen vorgehen. Es kann sein, dass Putin morgen abgesetzt wird, es ist möglich.

    Putin ist auf jeden Fall geschwächt, die Eliten sind unglücklich. Was das für ihre Handlungen bedeutet, kann man nicht wissen.

    Professor Alexander Libman, Osteuropa-Institut Freie Universität Berlin

    Das Interview führte Lukas Wagner.
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