Putins Tabubruch: Die neue Angst vor der Atombombe

    Putins Tabubruch:Die neue Angst vor der Atombombe

    von Angela Andersen, Claus Kleber
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    Putin drohte gleich zu Beginn des Ukraine-Krieges mit dem Einsatz von Atomwaffen. Eine reale Gefahr? Angela Andersen und Claus Kleber auf Spurensuche.

    "ZDFzeit: Putins Tabubruch - die neue Angst vor der Bombe": Oberst Thomas Schneider und Claus Kleber stehen vor einem Kampfflugzeug und unterhalten sich.
    Sehen Sie die ZDFzeit-Dokumentation "Putins Tabubruch" in voller Länge.23.05.2023 | 44:00 min
    Es war wohl wirklich ernst - im Oktober letzten Jahres, genau 60 Jahre nach der Kubakrise 1962, als die Welt für einen Monat am Rand eines Atomkriegs stand. Wieder liefen Drähte heiß zwischen den Hauptstädten des Westens, wieder ging es darum, die Gefahr einzuschätzen und die Anwendung von Atomwaffen zu verhindern. Es gab solche Hinweise aus dem Berliner Kanzleramt. Nun finden wir sie bestätigt - in Washington.
    "Ich weiß, dass die Regierung der Vereinigten Staaten (in den Tagen) sehr besorgt war, dass Russland in der Ukraine Atomwaffen zum Einsatz bringen könnte", sagt uns Rose Gottemoeller an einem stürmischen Tag im März.
    Wir hatten sie am Seitenausgang des White House in Empfang genommen und zu dem Set gebracht, das wir hoch oben auf einem Dach gegenüber eingerichtet hatten. Rose Gottemoeller ignorierte den eisigen Wind und den peitschenden Regen, der unseren Plan eigentlich unzumutbar machte. Sie verstand, welches Bild wir wollten und blieb cool.
    Explosion einer Atombombe mit Atompilz.
    Immer wieder droht der russische Präsident Wladimir Putin im Konflikt mit der Ukraine mit dem Einsatz von Atomwaffen. Die atomare Abschreckung scheint nicht mehr zu funktionieren.10.10.2024 | 29:05 min

    "Putin scheint tatsächlich bereit, das Tabu über Bord zu werfen"

    Die taffe Frau ist eine der angesehensten Persönlichkeiten im Bereich atomarer Rüstung und Abrüstung überhaupt. Sie spricht perfekt russisch, hat in Moskau gearbeitet, war stellvertretende Generalsekretärin der Nato und hat NEW START - den letzten noch bestehenden Abrüstungsvertrag - für die USA mit Russland verhandelt. Sie gehört zu den seltenen Diplomaten, die am liebsten Klartext reden.
    Wahrscheinlich erleichtert ihr das Gespräche mit jemandem wie dem stets übel gelaunten Sergej Lawrow, seit Ewigkeiten Russlands Außenminister. "Ich hoffe, wir haben die Bedrohung ein Stück weit zurückdrängen können, aber Putin scheint tatsächlich bereit, das Tabu über Bord zu werfen, das 77 Jahre lang galt."
    Sie meint damit den Konsens der großen Atommächte, dass ein Krieg mit nuklearen Waffen keinen Sieger kennt und deshalb niemals begonnen oder auch nur angedroht werden darf.

    Das Ende der Atombombe war bereits beschlossen

    Als es im September/Oktober letzten Jahres unmöglich wurde, noch länger zu leugnen, dass Putins Plan von einem blitzartigen Anschluss der Ukraine an Russland gescheitert war, brach er dieses Tabu. Damit begann eine neue, gefährlichere Phase zwischen den Supermächten. Und es wurde Zeit, wieder an dieses Thema heranzugehen.
    Wir hatten im ZDF vor vierzehn Jahren eine dreiteilige Prime-Time-Doku produziert, von der wir dachten, dass sie das Ende der nuklearen Bedrohung beschreiben könnte. Einige der großen Alten des Kalten Krieges - Henry Kissinger, George Shultz (Ronald Reagans Außenminister) und andere - auch aus Russland - hatten sich für das Ende ihrer Tage vorgenommen, die Welt von diesem Fluch zu befreien.
    Sie meinten es ernst. Und sie fanden Gehör - auch bei dem damals neuen, charismatisch-jungen US-Präsidenten. Barack Obama erklärte "Global Zero", die Abschaffung aller Atomwaffen, zu einem Staatsziel der USA.

    Ein neuer Abschnitt des nuklearen Zeitalters

    Das war 2009, in einer visionären Rede in Prag. Wir waren gerade auf der Zielgeraden mit unserer Produktion. Obamas Timing hätten wir uns nicht besser wünschen können. "DIE BOMBE" führte einem damals vor Augen, wie dringend nötig dieser Plan war. Wir konnten zeigen, wie die Gefahr eines Nuklearkrieges zwischen Pakistan und Indien, Israel, Iran, Irak und Saudi-Arabien, in Ost-Asien und sogar in Brasilien schon außer Kontrolle zu geraten drohte.
    Wladimir Putin, aufgenommen am 21.09.2022 in Moskau (Russland)
    Wie groß ist die nukleare Gefahr?31.01.2023 | 8:32 min
    Es war höchste Zeit für eine Kehrtwende. Und es schien eine Chance dafür zu geben. Selbst Wladimir Putin antwortete auf unsere Frage, ob Russland dabei wäre, mit einem "Ja" - wenn auch mit der Einschränkung, dass alle anderen überprüfbar mitmachen müssten. Wenn es diese Chance je gab, wurde sie vertan.
    Nun beginnt also ein neuer Abschnitt des nuklearen Zeitalters. Wir haben nichts dazugelernt. Nach wie vor ist "Abschreckung" offenbar das einzige Mittel, den fatalen ersten Schritt zu verhindern.

    Deutsche nukleare Teilhabe in Büchel

    Wir konnten die harte Kante dieser Realität für Deutschland in der Eifel drehen. Dort, in idyllischer Landschaft nördlich des Moseltals, liegt der Fliegerhorst des 33. Jagdbombergeschwaders der Luftwaffe.
    Dort üben deutsche Piloten für den Ernstfall. Dann müssten sie im Rahmen der "deutschen nuklearen Teilhabe" bereit sein, modernste amerikanische Atombomben - mit einer vielfach größeren Sprengkraft als in Hiroshima - über Zielen in Russland abzuwerfen.
    Lampions auf den Fluss in Hiroshima
    Der nukleare Urknall brachte zigtausendfach Leid und Tod und erschütterte die Weltgeschichte. Am 6. August 1945 verwüstete die erste Atombombe die japanische Stadt Hiroshima.02.08.2020 | 58:44 min
    Oberst Schneider, Kommodore von Büchel, sprach mit uns erstaunlich offen darüber, welche Gewissensnöte das für seine Mannschaft bedeutet: "Das ist bis zum letzten Moment eine Frage an die Besatzungen, ob sie zunächst einmal gewillt ist, diese Mission zu fliegen, um das Moralische ins Gespräch zu bringen. Ansonsten wird das im Tagesbetrieb ausdiskutiert."

    Die Frauen und Männer wissen, wenn sie hier nach Büchel kommen, was sie für einen Auftrag haben.

    Thomas Schneider, Kommodore von Büchel

    "Um mich zu töten, reicht eine Kugel"

    Wir hatten erwartet, dass wir auf unserer Drehreise nach Kiew - so viel näher an der Front dieses unseligen Krieges - auf größte Angst vor einer nuklearen Eskalation stoßen würden. Es geschah das Gegenteil.
    Illja, ein Student und Reserve-Offizier, zeigte eine ganz andere Haltung. "Um mich zu töten, reicht eine Kugel", sagte er in die Runde, die wir am Abend spontan im Nebenraum einer kleinen Bar zusammengeholt hatten. "Eine Atombombe tut nichts anderes". "Aber sie wirkt doch viel massiver", kam die erstaunte Reaktion. "Ja", sagte er:

    Aber wenn Du stirbst, zählst Du nicht die anderen Tode.

    Illja, Student und Reserve-Offizier aus der Ukraine

    Aktuelle Nachrichten zu Putins Krieg in der Ukraine finden Sie in unserem Liveblog:

    Russland greift die Ukraine an
    :Aktuelles zum Krieg in der Ukraine

    Seit Februar 2022 führt Russland einen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Kiew hat eine Gegenoffensive gestartet, die Kämpfe dauern an. News und Hintergründe im Ticker.
    Auf dem Bild sieht man ukrainische Soldaten von hinten.
    Liveblog

    "Putins wichtigste Waffe ist die Angst"

    Oleksandra, eine Philosophie-Doktorandin, für mich eine fast ideale Vertreterin der patriotischen Jugend der Ukraine, setzte unserer Runde den Rahmen: "Putins wichtigste Waffe ist die Angst. Sie soll uns lähmen. Solche Angst können wir uns nicht leisten."

    Du kannst keine Pazifistin mehr sein, wenn dir jemand eine Waffe ins Gesicht drückt.

    Oleksandra, Philosophie-Doktorandin aus der Ukraine

    "Das ist jetzt der Unterschied zwischen euch und uns, wenn es in den Debatten um Krieg und Frieden geht. Oder um Verhandlungen. Unsere Erfahrung ist völlig anders als in Ländern, die seit siebzig Jahren in Frieden leben."

    Es geht wieder um Abschreckung

    Putins Tabubruch fordert den aufrechten Umgang mit Drohungen, die unsere Generation der 1950er/60er für überwunden halten durfte. Wir haben uns zu früh gefreut. Es geht wieder um Abschreckung, weil alles andere schlimmer wäre. Es ist unfassbar schade.
    Die sogenannte "Weltgemeinschaft" muss wieder einmal einen gemeinsamen Ausweg finden. Doch zunächst gilt es, unerschrocken zu bleiben.
    Thema