Migrationspolitik: Juncker warnt vor "Grenzen in Köpfen"
Interview
Migrationspolitik in Europa:Juncker warnt vor "Grenzen in Köpfen"
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Der ehemalige Präsident der EU-Kommission, Jean-Claude Juncker, sieht Alleingänge von EU-Staaten in der Migrationspolitik kritisch. Er mahnt zu europäischem Zusammenhalt.
Derzeitige Europapolitik, Rechtsruck und Grenzkontrollen sind aktuelle Themen in Deutschland. Reaktionen und Kritik von Jean-Claude Juncker im Interview.19.09.2024 | 3:00 min
Der ehemalige Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker macht sich Sorgen um Europa. Die Grenzkontrollen bedrohten Europas Freizügigkeit. Sie seien Wasser auf die Mühlen der Rechtspopulisten, sagt er im ZDFheute-Interview. Juncker hat sein politisches Leben Europa gewidmet. Sein Vermächtnis: "Liebt Euch, interessiert Euch für einander, kommt aus Eurer kleinen nationalen Ecke raus."
ZDFheute:Klimakrise, Wirtschaftskrise, Ukraine-Krieg. So viele Krisen auf einmal. Ist es eine der schwersten Zeiten in Europa?
Jean-Claude Juncker: Ich bin ein Vertreter einer Generation, die keinen Tag Krieg erlebt hat. Mein Vater wurde mit 18 Jahren in die deutsche Wehrmacht eingezogen, gemeinsam mit drei seiner Brüder. Es hat so viele Kriege gegeben, jetzt nicht nur in der Ukraine, aber auch vor 20, 25 Jahren auf dem Balkan. War das alles besser? Nein, war es nicht.
Wir sind aber kleinmütiger geworden und wir beeindrucken uns auch dadurch, dass wir immer wieder sagen, die Krise ist so groß, dass wir ihrer nicht Herr werden können.
ZDFheute: Stichwort Zusammenstehen. In der Migrationsfrage üben die Nationalstaaten gerade den Alleingang. Verrät Europa mit den Grenzkontrollen seine europäische Identität?
Juncker: Irgendwann stellt sich bei den Menschen das falsche Gefühl ein, dass die Nationalstaaten und nur sie allein die Lösungen für die Probleme haben. Die Gefahr daran ist, dass die Menschen plötzlich Grenzen in ihren Köpfen bekommen. Wer die Schlagbäume runterlässt, der lässt nicht nur Schlagbäume runter, der sorgt auch dafür, dass Durcheinander in den Köpfen besteht.
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ZDFheute: Nutzen dies die Rechtspopulisten aus?
Juncker: Die rechtsextremen Kräfte in Europa stellen mit Genugtuung fest, dass sich wieder Wasser in ihren Mühlen versammelt. Sie jubeln regelrecht über das, was jetzt passiert. Das führt zu einer Glaubwürdigkeitskrise der EU.
ZDFheute: Die EU-Kommission ist auffallend still. Sie scheint die Rechtsbrüche hinzunehmen: Wie finden Sie das?
Juncker: Ich wünschte mir von der Kommission, ohne der Kommission zu nahe treten zu wollen, dass sie sich zu Wort meldet und auf die Notwendigkeit hinweist, dass die Ausnahmeregel eben nicht zum Regelfall werden darf. Ein einsamer Ruf in der Wüste ist besser als absolute Stille.
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ZDFheute: Warum passiert das nicht?
Juncker: Ich stelle mir auch die Frage: Vielleicht trauen sich angesichts des Erstarkens der Rechten viele nicht mehr, das zu sagen, was gesagt werden muss, dass die Grenzschließungen kein Dauerzustand werden dürfen. Ich habe schon vor Jahren beklagt, dass auch Vertreter klassischer Parteien in ein gefährliches Sumpfgebiet abrutschen.
ZDFheute: Die Niederlande und Ungarn wollen jetzt aus dem europäischen Asylrecht aussteigen. Ist das der Anfang vom Ende der Solidarität in Europa?
Juncker: Wenn ein Land die Genehmigung erhält, sich nicht mehr an der europäischen Asylpolitik zu beteiligen, dann verzichten wir darauf, Europa als einheitlichen Rechtsraum zu begreifen. Dann stellen wir das Asylrecht und Europa als Zufluchtsort infrage. Das Recht auf Asyl muss die EU beibehalten.
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ZDFheute: Sie haben Ihr politisches Leben Europa gewidmet. Was ist Ihre Botschaft, Ihr Vermächtnis?
Juncker: Liebt Euch, interessiert Euch füreinander, kommt aus Eurer kleinen nationalen Ecke raus, da ist nicht Raum genug, um sich zu freuen.
Das Interview führten Julia Rech und Ulf Röller. Beide arbeiten im ZDF-Studio Brüssel.