Interview
Türkischer Präsident:Erdogan droht mit Abkehr von EU - warum?
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Seit Jahrzehnten will die Türkei in die EU, nun deutet Präsident Erdogan ein Ende des Beitrittsgesuchs an. Was steckt dahinter?
Erdogan und seine Frau vor dem Abflug nach New York, wo er in der kommenden Woche an der Generaldebatte der UN-Vollversammlung teilnehmen wird.
Quelle: picture alliance / AA
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hat ein mögliches Ende des EU-Beitrittsgesuchs seines Landes anklingen lassen. Er warf der Europäischen Union am Samstag vor, auf Abstand zur Türkei zu gehen.
Das Land werde die Lage nun selbst bewerten und seine Schlüsse daraus ziehen. Wenn nötig, würden die Europäische Union und die Türkei "getrennte Wege" gehen.
EU-Beitritt der Türkei an einem "toten Punkt"
Der türkische Präsident reagierte damit vor seinem Abflug zur UN-Vollversammlung nach New York auf eine Frage zu einem kürzlich vom Europäischen Parlament angenommenen Bericht zu den Beziehungen zur Türkei. Darin hieß es, der Beitrittsprozess könne unter den gegenwärtigen Umständen nicht wieder aufgenommen werden. Die EU sei aufgefordert, einen "parallelen und realistischen Rahmen" für die Beziehungen zwischen der EU und der Türkei zu prüfen.
EU-Erweiterungskommissar Oliver Varhelyi hatte Anfang September bei einem Besuch in Ankara Fortschritte der Türkei in Sachen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit eingefordert und gesagt, die Verhandlungen über einen EU-Beitritt des Landes befänden sich an einem "toten Punkt".
Erst vor einer Woche hatte der türkische Außenminister Hakan Fidan die Entschlossenheit seines Landes bekräftigt, der EU beizutreten. Er forderte Brüssel auf, mutige Schritte zu unternehmen, um die Entwicklung voranzutreiben.
Was steckt hinter Erdogans Aussage?
Die jetzige Aussage von Erdogan sei "ein Warnschuss, mehr vermutlich nicht", schätzt ZDF-Türkei-Korrespondent Jörg Brase ein. "Eine Abkehr von Europa und damit von seinen wichtigsten Wirtschaftspartnern kann er sich nicht leisten." Einen Europa-Kurs erwarte letztlich auch die Mehrheit seines Volkes von ihm.
"Zumindest Visa-Erleichterungen und eine Zollunion sind realistisches Ziel des türkischen Präsidenten. Um daran zu erinnern, droht er nun den Europäern mit der Scheidung. In der Hoffnung, dass es nun wenigstens bei diesen Punkten endlich Bewegung gibt", erklärt Brase.
EU-Beitrittsprozess der Türkei liegt auf Eis
Die Türkei hatte 1999 den Beitritt zur Europäischen Union beantragt. Die 2005 aufgenommenen Beitrittsverhandlungen liegen seit einigen Jahren auf Eis. Nach der Niederschlagung eines Putschversuchs in der Türkei im Juli 2016 und einem anschließenden massiven Vorgehen gegen die Opposition im Land hatten sich die Beziehungen zwischen Ankara und Brüssel deutlich verschlechtert.
Die EU-Staaten müssten eine Wiederaufnahme der Beitrittsgespräche einstimmig beschließen. Unter anderem wegen der Spannungen zwischen der Türkei und den Mitgliedsländern Griechenland und Zypern gilt dies allerdings als schwierig.
Quelle: AP, AFP, Reuters, ZDF
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