Interview
Studie: "Die distanzierte Mitte":Demokratische Grundwerte drohen zu zerbröseln
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Ein Rechtsruck und eine zunehmende Distanzierung von der Demokratie: Die neue "Mitte-Studie" weist auf viele gesellschaftliche Herausforderungen hin. Die Mitautorin im Gespräch.
- Rechtsextreme Einstellungen sind in erschreckendem Maße angestiegen: Jede zwölfte Person in Deutschland teilt inzwischen ein rechtsextremes Weltbild
- Ein Teil der gesellschaftlichen Mitte distanziert sich zunehmend von der Demokratie
- Das Vertrauen in die Institutionen und in das Funktionieren der Demokratie schwinden
ZDFheute: Die aktuelle "Mitte-Studie" trägt den Titel "Die distanzierte Mitte". Wovon entfernt sich die Gesellschaft derzeit?
Professorin Beate Küpper: Wir haben diesen Titel deshalb gewählt, weil wir feststellen müssen, dass sich ein deutlich größerer Teil der Mitte der Gesellschaft von demokratischen Werten, Normen und Grundprinzipien distanziert als in den Erhebungen der Vorjahre.
Andere machen das eher zweifelnd und im Graubereich. Oft haben wir es dabei mit Menschen zu tun, die sich selbst als politisch genau in der Mitte der Gesellschaft bezeichnen.
Quelle: Daniela König/Hochschule Niederrhein
...Professorin an der Hochschule Niederrhein und lehrt Soziale Arbeit in Gruppen‐ und Konfliktsituationen. Die Sozialpsychologin ist Mitautorin der von der Friedrich-Ebert-Stiftung in Auftrag gegebenen Studie zu aktuellen rechtsextremen Einstellungen in Deutschland.
ZDFheute: Woran lässt sich diese Distanzierung festmachen?
Küpper: Allen voran mussten wir feststellen, dass rechtsextreme Einstellungen in erschreckendem Maße angestiegen und weiter in die Mitte gerückt sind.
Zum Vergleich: Davor lag dieser Wert immer unter drei Prozent. Auch die politische Selbstverortung von Befragten rechts von der Mitte hat deutlich zugenommen.
Hinzu kommt, dass das Vertrauen in die Institutionen und in das Funktionieren der Demokratie weiter gesunken ist. Im Vergleich zur letzten Befragung vertreten zudem nun rund ein Drittel mehr verschwörungsgläubige und populistische Positionen. So stimmen in der aktuellen Mitte-Studie mit 30 Prozent fast doppelt so viele Befragte wie noch vor zwei Jahren der Aussage zu: "Die regierenden Parteien betrügen das Volk".
Zum neunten Mal hat die SPD-nahe Friedrich-Ebert-Stiftung eine repräsentative Erhebung als Grundlage für ihre "Mitte-Studie" durchführen lassen. Wissenschaftlicher Partner ist das Institut für Interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG) der Universität Bielefeld. Für die Studie, die im zweijährigen Rhythmus durchgeführt wird, wurden von den Autor*innen Professor Andreas Zick (Leiter), Professorin Beate Küpper und dem wissenschaftlichen Mitarbeiter Nico Mokros die Inhalte von 2.027 repräsentativen Telefoninterviews (Alter von 18 bis 94 Jahren, Altersdurchschnitt: 50 Jahre) im Befragungszeitpunkt Januar bis Februar 2022 ausgewertet. Auf dieser Basis werden in der Reihe der Mitte-Studien die Verbreitung, Entwicklung und Zusammenhänge sozialer und politischer Einstellungen analysiert, um Auskunft über aktuelle und langfristige Herausforderungen der Demokratie und Gesellschaft zu geben.
"Wir helfen, wo der Staat versagt." Das ist das Motto eines Projekts, hinter dem einschlägig bekannte Rechtsextreme stecken.04.06.2022 | 28:38 min
ZDFheute: Welche Gründe für diese Entwicklung haben Sie ausmachen können?
Küpper: Die im Vergleich zu den Vorjahren deutlich höhere Zustimmung zu demokratiegefährdenden Einstellungen ist sicherlich zum Teil auf die Unsicherheit zurückzuführen, bedingt durch die vielen jüngeren Krisen - angefangen von der Corona-Pandemie über den Ukraine-Krieg bis zur Inflation und zum Klimawandel.
Interessant ist aber, dass sich nur 31 Prozent der Befragten persönlich von den Krisen betroffen fühlen. Das Gros, 55 Prozent der Befragten, kollektivieren diese Unsicherheit und betonen, dass Deutschland als Land besonders stark betroffen sei.
Dadurch dringen extrem rechte Narrative über die multiplen Krisen und vermeintliche Erklärungen immer weiter in die Mitte vor. Und daran arbeiten Kräfte von ganz Rechtsaußen schon länger.
ZDFheute: Gibt die neue Mitte-Studie ausschließlich Anlass zur Sorge, was die gesellschaftliche Entwicklung hierzulande betrifft?
Küpper: In erster Linie müssen uns die Ergebnisse auf jeden Fall große Sorge bereiten - vor allem weil das Bekenntnis zu einer klaren rechtsextremen Ideologie nicht mehr hinter vorgehaltener Hand erfolgt, sondern völlig offen.
Alarmierend ist für mich zudem, dass insbesondere auch die Zahl junger Menschen mit entsprechenden Einstellungen deutlich gestiegen ist. Das ist äußerst beunruhigend, denn die Jüngeren sind schlechterdings die Bürger*innen, die die Zukunft unseres Landes gestalten werden. Das ist die Generation, die vom lauten Populismus der letzten Jahre geprägt wurde und diesen nun in antidemokratische Einstellungen übersetzen.
Gleichzeitig macht mir unsere Studie dennoch Mut, denn sie zeigt auch:
So sind beispielsweise fast 75 Prozent davon überzeugt, dass wir den Ausbau erneuerbarer Energien gerade angesichts des Kriegs gegen die Ukraine schneller vorantreiben müssen.
ZDFheute: Wie sind Gesellschaft und Politik gefordert, mit den vorliegenden Ergebnissen umzugehen?
Küpper: Wir sind alle gemeinsam gefordert, nicht in erster Linie denjenigen unsere Aufmerksamkeit zu schenken, die ihre Sorgen oder das, was sie Sorgen nennen, laut auf die Straße tragen. Vielmehr müssen wir unser Augenmerk auf diejenigen richten, die wir zu leicht übersehen, weil sie nicht laut sind: Menschen, die sich im Kleinen und Großen für unsere Gesellschaft engagieren und die Demokratie tragen. Das ist nach wie vor die Mehrheit, die wir nicht verlieren dürfen.
Wir müssen aufpassen, dass uns unsere demokratischen Grundwerte nicht unter den Fingern zerbröseln, darauf macht die neue Mitte-Studie eindringlich aufmerksam. Denn Demokratie besteht nicht nur aus Forderungen, sondern auch aus Verantwortung aller dafür, dass sie funktioniert.
Das Interview führte Michael Kniess
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