Die 2020 noch unter der großen Koalition beschlossene Wahlrechtsreform ist verfassungsgemäß. Eine Klage der damaligen Oppositionsfraktionen von
FDP, Grünen und
Linken scheiterte am Mittwoch vor dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe. Nach einer neuen Reform aus diesem Jahr ist das Wahlrecht von 2020 zwar weitgehend überholt, der aktuelle Bundestag wurde aber noch auf seiner Grundlage gewählt. (Az. 2 BvF 1/21)
Die Änderungen im Wahlgesetz seien deutlich genug, erläuterte Gerichtsvizepräsidentin Doris König in ihren einführenden Worten. Das Gericht sah auch keine Verletzung der Chancengleichheit der Parteien.
Wie wurde die Reform zum Fall für das Bundesverfassungsgericht?
FDP, Grüne und Linke hatten sich ursprünglich auf einen eigenen Gesetzentwurf verständigt, der erheblich mehr Wirkung gehabt hätte. Nach ihm sollte zum Beispiel die Zahl der Wahlkreise von 299 auf 250 verringert werden. Sie reichten im Februar 2021 in Karlsruhe eine sogenannte abstrakte Normenkontrolle ein, um die Wahlrechtsreform von Union und
SPD auf ihre Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz zu überprüfen.
Waren die Kläger damit noch glücklich?
Nein. FDP,
Grüne und Linke hätten ihre Klage angesichts der Reform der
Ampel-Koalition lieber ad acta gelegt. Die 216 Abgeordneten, die einst den Normenkontrollantrag eingereicht hatten, beantragten Mitte März, das Verfahren ruhen zu lassen. Vergeblich.
Es bestehe ein "erhebliches Interesse" an der Feststellung, ob der aktuelle Bundestag auf Grundlage eines verfassungsgemäßen Wahlrechts zustande gekommen sei, sagte Vizegerichtspräsidentin Doris König bei der mündlichen Verhandlung.
Warum wurde das Wahlrecht überhaupt reformiert?
Das Bundeswahlgesetz legte mit der 2002 begonnenen 15. Wahlperiode die Sollgröße des Bundestags auf 598 Abgeordnete fest. Diese Zahl wurde anfangs noch annähernd eingehalten. Doch von Wahl zu Wahl zogen mehr Abgeordnete ins Reichstagsgebäude ein, 2017 waren es schließlich 709.
Verantwortlich für das Anwachsen des Bundestags auf ein XL-Format waren Überhang- und Ausgleichsmandate. Überhangmandate entstanden, wenn eine Partei mehr Direktmandate gewann, als ihr nach dem Zweitstimmen-Ergebnis Sitze zustanden. Diese durfte sie behalten, die anderen Parteien erhielten dafür aber Ausgleichsmandate. Alle Parteien plädierten für eine Verkleinerung, fanden dafür aber keinen gemeinsamen Nenner.
Wie sah die Wahlrechtsreform 2020 aus?
Die Wahlrechtsreform der GroKo bestand aus zwei Teilen. Der erste Teil kam schon 2021 zur Anwendung, der zweite Teil sollte erst für die Wahl 2025 gelten. Schon für 2021 wurde festgelegt, dass Überhangmandate einer Partei teilweise mit ihren Listenmandaten in anderen Ländern verrechnet werden sollen. Beim Überschreiten der Regelgröße von 598 Sitzen sollen bis zu drei Überhangmandate nicht durch Ausgleichsmandate kompensiert werden.
Nicht angetastet wurde dagegen die Zahl der 299 Wahlkreise. Diese sollten erst im zweiten Schritt ab 2024 auf 280 verringert werden. Außerdem sollte nach der Bundestagswahl 2021 eine Reformkommission zu Fragen des Wahlrechts eingesetzt werden.
Was hat die Reform von 2020 gebracht?
Nicht viel. Kritiker bemängelten von Anfang an, dass es sich nur um ein Reförmchen mit geringer Wirkung handele. Der Bundestag wurde nicht kleiner, sondern nochmals größer. Seit der Wahl 2021 umfasst er 736 Abgeordnete. Letztlich wurde nur der Anstieg gebremst. Für Wahlrechtsexperten steht allerdings fest, dass der Bundestag bei einem nur minimal anderen Wahlverhalten der Bürger noch viel größer hätte werden können. Robert Vehrkamp von der Bertelsmann Stiftung hielt kurz vor der Wahl sogar einen Bundestag mit gut 1.000 Abgeordneten für möglich.
Warum ist das Urteil angesichts der neuen Reform noch relevant?
Wegen der vielen Pannen am Wahltag in Berlin soll die Bundestagswahl nach einem Beschluss des Bundestags in einigen Wahlbezirken der Hauptstadt wiederholt werden. Auch hierzu läuft ein Verfahren in Karlsruhe.
Am 19. Dezember will das Bundesverfassungsgericht verkünden, in wie vielen Wahlbezirken dies zu geschehen hat, und ob es reicht, dabei nur die Zweitstimme abzugeben. Die Wiederholungswahl müsste nach denselben Regeln ablaufen wie die Hauptwahl.
Was könnte das bedeuten?
Es könnte kniffelig werden. Sollten die Änderungen für nichtig und nicht nur für verfassungswidrig erklärt werden, "müsste im Grunde im Fall einer partiellen Wiederholungswahl in Berlin das gesamte Bundestagswahlergebnis noch einmal nach dem alten Wahlrecht von vor 2020 berechnet werden", erläutert die Politikwissenschaftlerin Sophie Schönberger, die Kläger von Grünen, FDP und Linken vertritt.
Damit würde sich der aktuelle Bundestag nochmals vergrößern. "Eine prinzipiell mögliche Lösung wäre die Anwendung des vor dieser Reform geltenden Rechts", sagt der Bevollmächtigte des Bundestags, Professor Bernd Grzeszick. Auch käme theoretisch eine Art "Übergangs- oder Notfall"-Wahlrecht in Frage, das der Bundestag nur für diesen Fall erlassen könnte. All diese Szenarien seien aus verschiedenen Gründen aber rechtlich höchst problematisch.
Kann das Urteil auch Folgen für die neue Reform haben?
In Berlin wird das Urteil zur Wahlrechtsreform 2020 genau angeschaut werden. Denn möglicherweise schreiben die Richter ein paar generelle Leitsätze zum Wahlrecht in ihr Urteil, die auch Auswirkungen auf die jüngste Reform haben können.
Gegen diese klagen bereits der Freistaat Bayern und die CSU. Auch die CDU/CSU-Bundestagsfraktion und die Linke haben Klagen angekündigt. Angenommen, Karlsruhe verwirft die neue Reform, dann käme 2025 möglicherweise das alte Wahlrecht zum Tragen.
Quelle: dpa, AFP