Opfer politischer Verfolgung:Russland: Gedenken in Zeiten der Repression
von Armin Coerper, Moskau
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Russland gedenkt der Opfer politischer Verfolgung unter Stalin - während die Repression im Land zunimmt. Inhaftierte Oppositionelle rufen heute zum Hungerstreik auf.
Quelle: Reuters
Der Stein ist abgesperrt. Metallgitter sollen Menschen hindern, an ihn ranzukommen. Er steht mitten in Moskau, gleich neben der Zentrale des Geheimdiensts FSB. Er stammt von der Solowezki-Insel im Weißen Meer. Dort befand sich das erste von vielen Straflagern, in die Josef Stalin seine Kritiker verbannte.
1990 wurde der Solowezki-Stein hier errichtet, um an ihr Schicksal zu erinnern.
Kreml-Kritiker Orlow lässt sich nicht einschüchtern
Dass Russland an diesem Montag den Gedenktag an die Opfer des Stalinismus begeht, während das Land sich gerade genau dahin zurückwendet, das kann man wohl nur Ironie der Geschichte nennen. Die Polizei ist da. Und Oleg Orlow. Der 70-Jährige ist ein freier Mann. Für den Moment zumindest.
Ein Strafverfahren wegen "öffentlicher Aktivitäten zur Diskreditierung der russischen Streitkräfte in der Ukraine" wurde gerade mit einer Geldstrafe für ihn glimpflich beschieden, doch die Staatsanwaltschaft fordert drei Jahre Haft und ist in Revision gegangen.
Aber Oleg Orlow lässt sich den Mund nicht verbieten. "Wir haben heute schlimmere Bedingungen als zu Breschnews Zeiten" sagt er im Interview mit ZDFheute vor dem Denkmal.
Orlow schummelt sich an der Polizei vorbei und legt Blumen an das Denkmal. Er war 1988 einer der Gründer von "Memorial", einer Organisation, die die politische Verfolgung während der Sowjetzeit aufarbeiten wollte. Memorial ist sei 2021 in Russland verboten. 2022 wurden Orlow und seine Mitstreiter mit dem Friedensnobelpreis geehrt.
Blumen können im Jahr 2023 zum Verhängnis werden
Neben Worten sind seine Waffen gegen das Regime heute Blumen. "Auch die darf man nur mit Erlaubnis der Behörden niederlegen", sagt er. "Und nur Menschen, die von den Behörden gemocht werden, dürfen das."
In der Sowjetunion haben am 30. Oktober 1974 Gefangene in ihren Straflagern mit einem Hungerstreik den "Gedenktag für die politischen Gefangenen" begangen. Etwa zehn Jahre später - während Gorbatschows Regierungszeit - fanden in größeren Städten Demonstrationen statt. Diese gipfelten 1989 in einer Menschenkette mit rund 3.000 Personen um den Sitz des Geheimdienstes KGB in Moskau.
Zwei Jahre später erklärte der Oberste Rat der Russischen Sowjetrepublik den 30. Oktober 1991 zum offiziellen "Gedenktag der Opfer politischer Verfolgung". 2023 können Blumen an diesem Tag zum Verhängnis werden.
Politische Gefangene rufen zum Hungerstreik auf
In Anlehnung an 1974 haben in diesem Jahr politische Gefangene wie Alexej Nawalny, Wladimir Kara-Mursa und Ilja Jaschin zum Hungerstreik aufgerufen. Was daraus wird, das wird vermutlich niemand erfahren. Die Gefangenen haben praktisch keinen Kontakt zur Außenwelt. Auch ihre Anwälte haben nur sehr eingeschränkten Zugang und sind politischer Verfolgung ausgesetzt.
Das heutige Russland will sie vergessen machen. Umso absurder wirkt der Gedenktag. Denn in vielen russischen Wohnzimmern hat Stalins Konterfei längst wieder Einzug gehalten. Ein Beleg von vielen dafür, dass große Teile der Gesellschaft ihr Heil in den dunkelsten Kapiteln der Geschichte suchen. So ist das moderne Russland auf dem Weg zurück in die Zukunft.
Wladimir Kara-Mursa muss für 25 Jahre ins Straflager. Politische Gefangene wie der Oppositionspolitiker dienen dem Kreml als abschreckendes Beispiel an die Zivilgesellschaft.