Nato: Darum ist Erdogans Türkei unbequem und unverzichtbar

    Analyse

    Erdogans Außenpolitik:Passt die Türkei noch zur Nato?

    Anna Feist
    von Anna Feist, Istanbul
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    Die Nato feiert 70. Geburtstag, Erdogan provoziert. Wie glaubwürdig ist das transatlantische Bündnis noch, das sich auch als Wertegemeinschaft für Freiheit und Demokratie versteht?

    Nato-Generalsekretär Stoltenberg in der Türkei
    Nato-Generalsekretär Stoltenberg zu Besuch beim türkischen Präsidenten Erdogan im Februar 2023.
    Quelle: dpa

    Dass der Westen die Türkei noch als Teil der Nato versteht, als Teil des transatlantischen Bündnisses, das sich auch als Wertegemeinschaft freier demokratischer Staaten sieht mit dem expliziten Bekenntnis seiner Mitglieder zu Frieden, Demokratie, Freiheit und der Herrschaft des Rechts, hält Jihan Kara für verlogen.

    Doppelmoral in Erdogans Politik?

    Der kleine Laden im Istanbuler Stadtteil Kadiköy ist seine Bastion der Freiheit. Noch säßen hier jeden Abend westliche Erasmus-Studenten, die kein Blatt vor den Mund nehmen; noch traut sich der Kurde Kara hier seine Meinung zu sagen:

    Es gibt keine Gewaltenteilung mehr in diesem Staat. Nichts. Alles ist in den Händen der Regierung.

    Jihan Kara, Café-Besitzer

    Doch außerhalb des kleinen Cafés, in dem Land, in dem er geboren und aufgewachsen ist, das er als Heimat bezeichnet, fühlt er sich spätestens seit der Wiederwahl von Recep Tayyip Erdogan im Mai 2023 nicht mehr verstanden.
    Und so wirklich verstehen kann er wiederum nicht, dass seine türkischen Landsleute die Doppelmoral ihres Präsidenten nicht durchschauen: "Das sind Narren, da protestieren Hunderttausende für Gaza. Etwa eine Bürgermeisterin einer türkischen Großstadt."

    Sie protestiert gegen Gewalt und gleichzeitig werden in ihren Namen Bomben auf die Kurden in Rojava in Nordsyrien geworfen.

    Jihan Kara, Kurde

    Erdogan bezeichnet Israel als "Kriegsverbrecher"

    Der Kurde verweist auf letzten Samstag: da habe es nur wenige Kilometer von seinem Laden entfernt im Vahdettin-Pavillon ein Lehrstück gegeben, wie zynisch Außenpolitik sein kann: Der amerikanische Außenminister Anthony Blinken startete seine Nahost-Diplomatie in der Türkei. Doch anders als sonst bei einem Besuch des Nato-Verbündeten USA üblich, war Erdogan nicht bereit für große Gesten.
    Die Sympathien des Präsidenten stehen fest: Die türkische Regierung zeigte bei einer Demo vor wenigen Tagen mit 250.000 Teilnehmern mitten im touristischen Zentrum Istanbuls, dass sie fest an der Seite der Palästinenser steht - und damit gegen Israel und dessen Hauptverbündeten USA. Israel sei ein "Kriegsverbrecher"; die in der EU als Terrororganisation eingestufte Hamas dagegen sei eine "Befreiungsorganisation".
    Erdogans Strategie im Nahost-Krieg
    Zu Beginn des Krieges in Nahost bot Erdogan seine Hilfe als Vermittler an. Als Israel darauf nicht reagierte, ließ Erdogan alle Neutralität fahren.02.01.2024 | 2:16 min
    Verbalattacken, die der Westen hinnimmt. Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg etwa unterstreicht, dass er den Zusammenhalt im Bündnis nicht gefährdet sieht durch Erdogans Nähe zur Hamas.

    Nahost-Konflikt: Erdogan will Schlüsselfigur werden

    So inszeniert sich Erdogan immer obsessiver als Beschützer der Unterdrückten in der muslimischen Welt. Dahinter stecke ein Kalkül, erklärt Politikwissenschaftler Sinan Ülgen: der türkische Präsident wolle die palästinensischen Konfliktparteien Fatah und Hamas versöhnen und so zum Friedenshüter in einem Nachkriegs-Gaza werden: "Wenn das klappt, dann wäre das für den Westen, insbesondere für die USA, durchaus positiv". Denn:

    Wenn die Türkei diese Rolle nicht übernimmt, dann würde es der Iran tun oder dieses Momentum dieser sehr kritischen Annährung könnte verpuffen.

    Sinan Ülgen, Politikwissenschaftler

    Erdogan wolle so zu einer Schlüsselfigur werden für einen nachhaltigen Frieden in Nahost. Und der Westen wolle davon profitieren - Werte hin, Werte her.

    Türkei: Schwedens Nato-Beitritt gegen F16-Jets

    Ohnehin verstehe die Türkei die Nato weniger als Wertegemeinschaft, vielmehr als eine "Transaktionsvereinbarung", erklärt der ehemalige britische Nato-Funktionär Jamie Shea im ZDF-Interview.

    Transaktionen beruhen auf Gegenleistungen. Was gebe ich dir und was gibst du mir im Gegenzug?

    Jamie Shea, ehemaliger Nato-Funktionär

    So geht es etwa bei Blinkens Besuch neben Gaza, auch um Schweden: Erdogan soll der Aufnahme Schwedens in die Nato zustimmen und im Gegenzug will er von den Amerikanern F16-Jets. Die, und das wissen alle am Verhandlungstisch, wurden in der Vergangenheit auch eingesetzt, um die Kurden in Nordsyrien zu bombardieren.
    US-Außenminister Blinken startet eine Rundreise durch den Nahen Osten.
    US-Außenminister Blinken hat eine mehrtägige Nahost-Reise gestartet. Seine erste Station ist die Türkei – Blinken setzt auf Präsident Erdogan als wichtigen Vermittler im Gaza-Krieg.06.01.2024 | 1:47 min

    Erdogan als Brückenbauer für die Nato?

    Passt eine solche Türkei noch zum Wertebund Nato? Jamie Shea würde das klar bejahen:

    Stellen Sie sich mal die Nato ohne die Türkei vor. Dann wäre die Türkei sicherlich eng mit Russland, mit China und vielleicht mit einigen Golfstaaten verbündet. Wäre das wirklich im geostrategischen Interesse des Westens?

    Jamie Shea, ehemaliger Nato-Funktionär

    Die Türkei helfe der Nato etwa Brücken zu anderen muslimischen Ländern zu bauen, erklärt er: "Und Erdogan, obwohl er für die Nato gelegentlich schwierig sein kann, ist auch der Mann, der zwischen Russland und der Ukraine verhandeln kann."
    Fest stehe aber auch, gibt Shea zu, dass Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg wohl in kein anderes Beitrittsland so oft reisen müsse wie in die Türkei: "Er muss irgendwie die Familie zusammenhalten. Das ist in diesen Tagen ein harter Job!"

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