Interview
Argentiniens tiefe Krise:Die Wahl der Verzweiflung
von Christoph Röckerath
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Seit Jahrzehnten wechseln sich in Argentinien Links und Rechts ab, ohne große Veränderungen. Nun mischt ein radikaler Quereinsteiger das politische Feld auf - Javier Milei.
Argentiniens Bevölkerung leidet unter der hohen Inflation. Bei den Wahlen am 22. Oktober könnte der rechtspopulistische Kandidat Javier Milei gewinnen.18.10.2023 | 6:34 min
Das Brutzeln der dicken Rindersteaks auf dem Grill ist so laut, dass es fast in den Ohren schmerzt. Mit gut gelauntem Schwung wendet Küchenchef Román Mainardi das Fleisch: "Schauen Sie, unser Grill ist voller Fleisch. Die Leute gönnen sich etwas."
Wir sind in einem traditionellen Fleisch-Restaurant im Ausgehviertel Palermo, mitten in Buenos Aires, wo sich eine Gaststätte an die andere reiht. Alle sind sie voll. Es scheint, als wollten die Argentinier die schwere Wirtschaftskrise und Hyperinflation einfach aufessen. Und ganz so verrückt, wie es klingt, ist das gar nicht, sagen uns die Gäste: Viel mehr könnten sie mit ihren Peso ohnehin nicht machen.
40 Prozent der Argentinier leben unterhalb der Armutsgrenze
Doch die Zahl derer, die überhaupt noch etwas Geld über haben, wird immer kleiner in Argentinien. Das Land befindet sich seit Jahren in einer Krise, deren einzige Dynamik lediglich darin zu bestehen scheint, dass es immer noch schlimmer kommen kann. Inzwischen leben rund 40 Prozent der Argentinier unterhalb der Armutsgrenze. Viele andere kämpfen jeden Tag, um nicht ebenfalls abzurutschen.
Ernestina Frittayon ist 23 Jahre alt, studiert und kommt aus einer mittelständischen Familie. Doch das schützt sie nicht vor den Abstiegssorgen. Wenn sie in den Supermarkt geht, ist die Angst vor dem Preisschild stets an ihrer Seite.
Zwei Mal die Woche erhöhen die Läden die Preise. So werden sie von den Großhändlern durchgereicht, die direkt an den internationalen Märkten hängen. Die Geldbündel in Ernestinas Tasche werden immer dicker, ihr Wert aber schwindet. Kurz vor der Präsidentschaftswahl am Sonntag ist der Peso noch einmal abgerutscht. Inzwischen steuert die Inflationsrate in Richtung 140 Prozent.
Die Hyperinflation sorgt bei vielen Argentiniern für Abstiegssorgen.
Quelle: AFP/Ruis Robayo
Javier Milei will etablierte Politik aufmischen
Ernestina will daher auswandern, gemeinsam mit ihrem Freund Luciano. Beide stehen für einen beunruhigenden Trend. Immer mehr gut ausgebildete junge Leute, die eigentlich für eine bessere Zukunft Argentiniens stehen könnten, kehren ihrem Land den Rücken. Und nicht nur das. Viele von ihnen haben das Vertrauen in die etablierte Politik verloren.
Seit Jahrzehnten wechseln sich Links und Rechts ab, ohne große Veränderungen. Doch nun wird das Feld der bekannten Gesichter aufgemischt von einem Quereinsteiger. Javier Milei, ein Ökonom und selbsternannter "Anarcho-Kapitalist", fällt auf mit einer Rhetorik, die an Donald Trump und Co erinnert: Wir gegen alle anderen!
Positionen zwischen rechtsextrem und anarchistisch
Sein Markenzeichen ist die Kettensäge, mit der er die etablierte Politik zu Kleinholz verarbeiten will. In viralen Internet-Videos reißt der Mann mit schriller Stimme und 70er-Jahre-Frisur symbolisch einen Großteil der Ministerien ab, vor allem jene aus den Bereichen Bildung, Soziales und Infrastruktur.
Die Positionen von Javier Milei schwanken zwischen rechtsextrem und anarchistisch.
Quelle: AFP/Marcos Gomez
Seine Positionen schwanken zwischen rechtsextrem und anarchistisch. Was er wirklich will, weiß niemand so genau, aber das scheint egal. Hauptsache kein "Weiter so", sagen viele Wähler.
Vor allem junge Leute setzen auf Milei. So auch Ernestinas Freund: "Wir wollen einfach einen Wechsel. Selbst wenn man dazu alles kaputt machen muss. Die anderen Politiker machen einfach weiter wie zuvor."
Aus dem Nichts in den Umfragen vorn
In den jüngsten Umfragen führt Milei das Feld an, liegt knapp vor dem Kandidaten der regierenden Peronisten Sergio Massa. Damit scheint eine Entscheidung im ersten Wahlgang als unwahrscheinlich.
Doch allein die Tatsache, dass Milei quasi aus dem Nichts, ohne politische Strukturen und ohne ein kohärentes Programm so populär werden konnte, sagt viel aus über den Zustand Argentiniens.
Christoph Röckerath ist Leiter des ZDF-Studios Rio de Janeiro.
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