Klima: Risiko-Bericht warnt vor gefährlichen Kipppunkten
Klima und Umwelt:Bericht warnt vor gefährlichen Kipppunkten
von Mark Hugo
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Sechs mögliche Kipppunkte könnten für die Menschheit zur Katastrophe werden, warnt die UN-Universität in ihrem Risikobericht. Noch werde derzeit zu wenig in die Zukunft gedacht.
Wegen Trockenheit beschränken manche Landkreise im Sommer die Grundwassernutzung.
Quelle: dpa
Die Folgen für Wirtschaft und Gesellschaft könnten drastisch sein, wenn bei bestimmten Risiken nicht schnell und konsequent gegengesteuert werde. Davor warnt der "Interconnected Disaster Risks"-Report der Universität der UN in Bonn.
Die Forschenden sehen dabei sechs Risiko-Kipppunkte, an deren Rand sich die Menschheit bereits "gefährlich nah" bewege:
• Eskalierendes Artensterben • Erschöpfung des Grundwassers • Gletscherschmelze • Weltraumschrott • Unerträgliche Hitze • Verlust von Versicherbarkeit
Mit Kipppunkten sind dabei Schwellen gemeint, ab denen die Auswirkungen auf die Menschen und die Erde unumkehrbar werden. Wann sie überschritten werden, könne dabei regional sehr unterschiedlich sein.
Unerträgliche Hitze in Pakistan
"Der Kipppunkt 'Unerträgliche Hitze' beispielsweise wurde an einigen Punkten der Erde bereits mehrfach erreicht, wie zum Beispiel in Jacobobad in Pakistan", sagt Zita Sebesvari, Leitautorin des Berichts, gegenüber ZDFheute. Das feuchtheiße Klima dort sei so extrem, dass das für den Menschen lebensbedrohlich sei. Eine Gefahr, die durch fortschreitende Erderwärmung auch anderen Regionen der Welt drohe.
Der "Interconnected Disaster Risks"-Bericht wird seit 2021 jährlich vom Institut für Umwelt und menschliche Sicherheit der Universität der Vereinten Nationen in Bonn veröffentlicht. Nach Angaben des Instituts analysiert er Katastrophen und untersucht, wie sie miteinander und mit menschlichem Handeln zusammenhängen. Außerdem zeigt er Möglichkeiten, wie diese Zusammenhänge für Lösungen genutzt werden könnten. Der thematische Fokus wechselt jedes Jahr.
Anderes Beispiel: Der Grundwasser-Kipppunkt könnte schon bald etwa in Saudi-Arabien oder in Teilen Indiens erreicht sein - dort, wo für die Landwirtschaft übermäßig viel Grundwasser entnommen wird. Sollte das Niveau unter die vorhandene Brunnentiefe sinken, wären die Landwirte plötzlich ohne Wasser, was ganze Lebensmittelproduktionssysteme gefährden könne, so der Bericht.
Gefahr durch häufigere Dürresommer
Dürre, Sturm, Hitze, Fluten: Wetterextreme häufen sich und verursachen Milliardenschäden. Höchste Zeit, sich den Klimaveränderungen anzupassen. Ist Deutschland darauf vorbereitet?17.09.2023 | 28:26 min
Noch sei dieses Problem in Deutschland nicht angekommen. "Das könnte sich durch zunehmend häufig auftretende Dürresommer aber bald ändern", so Umweltforscherin Sebesvari. Deshalb müssten etwa die Regulierung und Kontrolle der Grundwasserentnahme überprüft werden - möglichst schon jetzt.
Denn auch in diesem Punkt ist der Report klar: Die drohenden Kipppunkte seien zwar sehr real. "Trotzdem können wir aber auch noch handeln, um sie abzuschwächen und im Idealfall ganz zu vermeiden." Der Klimawandel etwa sei eine "treibende Kraft" hinter vier der sechs Kipppunkte.
Alle sechs Probleme seien laut dem Report der UN-Uni miteinander verwoben - nicht nur mit Blick auf die Ursachen. Sie müssten daher auch zusammen betrachtet werden. Beispiel Weltraumschrott: Durch den zunehmenden Müll im Orbit könnten künftig ganze Satellitensysteme ausfallen.
Satellitendaten als hilfreiche Werkzeuge
Es wird eng im All. Tonnenweise Schrott kreist um die Erde. Trotzdem werden immer mehr Satelliten gestartet. Mit jedem wächst die Gefahr von Zusammenstößen – mit fatalen Folgen.20.02.2022 | 28:45 min
Aus dem Weltall werden zum Beispiel der Meeresspiegelanstieg oder die Gletscherschmelze beobachtet und analysiert. Und: "Satellitendaten helfen uns dabei, frühzeitig vor drohenden Naturgefahren wie Überschwemmungen, Wirbelstürmen und Erdbeben zu warnen", erklärt Zita Sebesvari.
Ein Riesen-Problem wäre auch, wenn Elementarschäden wegen der Zunahme der Risiken nicht mehr versichert werden könnten. Dann falle ein Schutzmechanismus weg, der Betroffenen hilft, nach einer Katastrophe wieder auf die Beine zu kommen.
03.08.2020 | 1:12 min
Kipppunkte sind erdsystemische Ereignisse von globaler Auswirkung, die nach menschlichem Ermessen nicht rückgängig gemacht werden können und den Klimawandel deutlich vorantreiben. Gefährliche Kipppunkte sind:
das Auftauen der Permafrostböden in den nördlichen Breiten (Sibirien, Alaska, Kanada)
das Abschmelzen der Landeismassen auf Grönland
das Abholzen der Regenwälder Amazoniens
die Veränderung des Golfstroms
die Sättigung der Ozeane mit CO₂
11.10.2021 | 1:25 min
In den dauerhaft gefrorenen Böden, den Permafrostböden, sind große Mengen organisches Material, also abgestorbene Pflanzen, enthalten. Tauen die Böden aufgrund der Erwärmung auf, verrottet das Pflanzenmaterial durch den Einfluss des Luftsauerstoffs, das Treibhausgas Methan wird freigesetzt. Methan hat ein rund 20-fach stärkeres Klimaerwärmungspotenzial als CO₂, hält sich aber mit rund zehn Jahren vergleichsweise kurz in der Atmosphäre.
Dennoch: Wenn eine genügend große Menge Methan nahezu zeitgleich frei wird, könnte sich die Erderwärmung drastisch beschleunigen. Tauende Permafrostböden werden bereits seit vielen Jahren beobachtet, die Methanmengen sind aber noch zu gering, um den Klimawandel merklich zu beeinflussen.
09.11.2023 | 0:46 min
Ein internationales Team der University Leeds hat die Daten von 17 Satelliten-Missionen und 50 Messkampagnen ausgewertet. Das Ergebnis dieser neuen Eisbilanz zeigt (Stand 2023), wie viel die Eisschilde Grönlands und der Antarktis seit 1992 verloren haben.
Im Detail:
Sowohl Grönland als auch die Antarktis verlieren so viel Eis wie noch nie seit Beginn der Messungen. In beiden Regionen beschleunigt sich das Abtauen rapide.
Grönlands Eismasse hat seit 1992 um 4,8 Billionen Tonnen abgenommen. Im Schnitt lag die Abtaurate bei 169 Milliarden Tonnen Eis pro Jahr. Im Rekordjahr 2019 waren es dagegen 444 Milliarden Tonnen.
Die Antarktis hat zwischen 1992 und 2020 gut 2,6 Billionen Tonnen Eis verloren. Weil die sehr kalten und hoch gelegenen zentralen und östlichen Teile der Antarktis bisher noch relativ stabil sind, tragen vor allem die rapide schrumpfenden Küstengletscher der Westantarktis zum Abtauen bei.
Seit 1992 haben Grönland und die Antarktis den Meeresspiegel um 21 Millimeter erhöht. Knapp zwei Drittel des Schmelzwassers stammten dabei aus Grönland, wie die Auswertungen ergaben. Die Eisschmelze in Grönland und der Antarktis ist damit inzwischen für 25,6 Prozent des Pegelanstiegs verantwortlich.
18.08.2021 | 4:57 min
Der Amazonas-Regenwald nimmt gewaltige Mengen Wasser auf und verdunstet es wieder. In der Atmosphäre bilden sich regelrechte Feuchtigkeitsflüsse, die auch die Niederschläge in Europa beeinflussen.
Intakte Wälder sind CO₂-Senken. Die Bäume nehmen CO₂ aus der Atmosphäre auf, per Photosynthese wird es in Kohlenstoff (C) und Sauerstoff (O) gespalten. Der Kohlenstoff dient dem Holzwachstum, der Sauerstoff wird frei. Derzeit sind bereits rund 17 Prozent der Amazonas-Regenwaldflächen abgeholzt. Sind etwa 25 Prozent erreicht, dann stirbt der Regenwald auch ohne Rodung langsam ab, weil die Feuchtigkeit fehlt. Eine wichtige CO₂-Senke wäre verloren.
02.03.2021 | 6:17 min
Der Golfstrom transportiert warmes Oberflächenwasser aus den Subtropen bis in die Arktis. Gleichzeitig strömt kaltes Tiefenwasser von Norden nach Süden. Insgesamt sorgt diese Golfstromzirkulation in West- und Nordeuropa für ein mildes Klima.
Die Klimaerwärmung lässt nun arktische Eismassen schmelzen, das Süßwasser verändert den Salzgehalt im Meerwasser, die Dichte nimmt ab, das Wasser wird leichter und sinkt demzufolge weniger tief ab. Dadurch - so meinen Wissenschaftler - verlangsame sich die Zirkulation des Golfstroms. Geht dieser Prozess weiter, würde die Durchschnittstemperatur in Nord- und Westeuropa deutlich sinken, Niederschläge würden zunehmen und das maritime Ökosystem würde sich mit nicht absehbaren Folgen verändern.
Ozeane speichern bisher rund ein Drittel der menschengemachten CO₂-Emissionen. Doch irgendwann ist auch dieser gigantische Speicher voll. Ist das der Fall, würde das CO₂ in der Atmosphäre bleiben und den Klimawandel beschleunigen. Also bremsen die Meere den Klimawandel derzeit noch.
Aber: CO₂ wird im Meerwasser gelöst, es entsteht Kohlensäure, das Wasser versauert. Ein hoher Säuregehalt schädigt die Kalkskelette der Korallen. Auch Muscheln und Krebse könnten keine stabilen Gehäuse mehr bilden. Hinzu kommt die Erwärmung der Weltmeere. Das Ökosystem rund um Korallenriffe ist ernsthaft gefährdet. Das sogenannte Korallensterben wurde bereits an mehreren Hotspots der Weltmeere nachgewiesen.
Treten die Kipppunkte ein, besteht nach Meinung der Klimaforscher die Gefahr, dass abrupte, drastische Klimaänderungen die Anpassungsmöglichkeiten der menschlichen Gesellschaft übersteigen. Folge könnten weitreichende Verwüstungen sein, eine Ernährungskrise oder eine ernsthafte Gefährdung der Trinkwasserversorgung. Teile der Erde würden unbewohnbar, Flüchtlingsbewegungen gigantischen Ausmaßes kämen in Gang.
Einen exakten Grenzwert, ab welchem globalen Temperaturniveau Kipppunkte überschritten werden, können Klimawissenschaftler nicht angeben. Daher werden statistische Temperaturkorridore festgelegt, in dem das Risiko für das Erdsystem wächst.
von Christine Elsner, ZDF-Umweltredaktion
Mangel an Zukunftsplanung
Sebesvari kritisiert bei all dem einen "Mangel an Planung in Bezug auf die Zukunft". Die bisher umgesetzten Lösungen setzten eher darauf, die Kipppunkte zu verzögern, und weniger darauf, die Dinge tiefergehend zu verändern. Als Beispiel nennt sie die Installation von Klimaanlagen gegen die Hitze, die zwar gesundheitliche Gefahren vermindern, das Problem selbst aber noch verschärfen.
"Wir müssen die Rechte und Handlungsoptionen zukünftiger Generationen viel stärker berücksichtigen und schützen", fordert Prof. Sebesvari. Das müsse künftig in die Entscheidungsprozesse mit einfließen.
Mark Hugo ist Redakteur in der ZDF-Umweltredaktion.