Stuttgart kämpft gegen die Bandenkriminalität, der immer mehr zu eskalieren droht. Erst Anfang Dezember kam es bei einer Auseinandersetzung zum Einsatz einer Handgranate. 20.12.2023 | 15:01 min
Schwarz vermummt marschieren junge Männer durch Stuttgarts Straßen, skandieren "Rache", immer wieder. Die Polizei in Stuttgart will aufmerksam machen - auf ein neues Bandenphänomen, das Baden-Württemberg in Atmen hält.
Polizeipräsident Markus Eisenbraun schildert, wie sich kürzlich eine Bande mitten in der Innenstadt formierte. Mit solchen Märschen, erklärt er, hat der Krieg zweier Banden vor gut eineinhalb Jahren begonnen und ist mittlerweile völlig eskaliert. "Was die Verfügbarkeit von Schusswaffen betrifft, bis hin zu Maschinenpistolen oder dem Handgranatenwurf in Altbach: Das hat sicherlich eine neue Dimension" sagt der Polizeipräsident.
Nur ein Baum verhindert ein Blutbad im Bandenkrieg
Fast 20 Schießereien hat es seit dem Sommer 2022 gegeben, mehrere Tote und Verletzte. Der dramatische Höhepunkt: Ein junger Mann wirft im Juni eine Handgranate auf Trauernde, die ein Mitglied der verfeindeten Bande zu Grabe tragen. Das tödliche Geschoss trifft einen Baum. Nur das verhindert ein Blutbad. Zehn Menschen werden schwer verletzt.
Anders als in Berlin oder Köln eint die jungen Männer kein Clan, keine Nationalität, sondern der Nervenkitzel. "Wir bezeichnen es als Kriminalität als Lebensentwurf, crime as a lifestyle. Die Männer sind 18 bis 28 Jahre, multiethnisch, fast alle haben einen Migrationshintergrund. Die meisten stammen aus bildungsfernen Milieus", sagt Andreas Stenger, Chef des Landeskriminalamts (LKA).
Kern der Banden umfasst bereits etwa 500 Männer
Etwa 500 junge Männer umfasst allein der schnell wachsende Kern der Banden. Ihr Vorbild, ihr Kitt: Rapper wie Eska und Dardan. "Das sind Leute, die singen ja selber: Wir sind kriminell, aber es geht uns nicht ums Gewinnen. Es geht um Ehre und Respekt. Das ist das, was ich als 'toxischen Ehrbegriff' und 'gewalt-legitimierende Männlichkeit' beschreibe", so der LKA-Chef.
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"Alle reden von Ehre. Irgendwann ist Stichtag, einer kriegt ein Messer in die Leber", rappt Dardan. "Stiche für die Ehre fallen. Ich weiß nicht, wie du lebst. Meine Mannschaft will Blut sehn", heißt es bei Eska.
Was die Rapper singen, übertragen ihre Supporter auf die Straße: Das benachbarte Esslingen, Revier der zweiten Bande. Obwohl sich hier der Stern eines Mercedes-Werks dreht, ist das Viertel sozial abgehängt. 2022 war es der erste Schauplatz des Straßenkriegs: 19 Schüsse fielen.
Verhältnisse wie in Stockholm oder Marseille verhindern - aber wie?
Mustafa Bagci ist hier aufgewachsen, aber mittlerweile weggezogen. Er kennt die Gegend. "Wenn jetzt so ein Jugendlicher in so 'ner Bande mitmacht, dann bekommt er die Möglichkeit, ein tolles Auto zu fahren, wenn's auch nicht seines ist. Wenn er ehrlich arbeitet, lebt er ein normales Leben. In diesem Instagram-Zeitalter weckt das die Begierde der Jugendlichen", beschreibt er die Anziehungskraft.
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Um Verhältnisse wie in Stockholm oder
Marseille zu verhindern, fordert die Polizei mehr Personal, bessere Software. Sie haben mittlerweile 52 Männer festgenommen. Doch die Banden wachsen weiter. Da ist diese Sogwirkung, auch auf Einwanderer.
"Das macht natürlich Sorge: Was ist mit denen, die gerade kommen? Wie integrieren sie sich? Hoffentlich nicht in diese Gruppierungen", sagt der Polizeipräsident. Wie leicht das passiert, zeigt der laufende Prozess gegen das Bandenmitglied, das die Handgranate geworfen hat. Der Iraner ist 2016 nach Deutschland geflüchtet. Die Ermittler gehen davon aus, dass die Tat eine Mutprobe war, um in der Bandenhierarchie aufzusteigen. Der Angeklagte schweigt - wie alle bislang: Ehrenkodex der Banden.
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