Immer mehr Menschen pflegen in Deutschland ihre Angehörigen zu Hause. Wie viele es genau sind, lässt sich nur schätzen, denn es wird keine amtliche Statistik darüber geführt. Laut dem Pflegereport der BARMER Krankenkasse von 2018 sind es rund 2,5 Millionen Menschen, die einen Angehörigen in Vollzeit pflegen. Das Robert-Koch-Institut geht in seinen Berechnungen sogar von 4,7 Millionen pflegenden Angehörigen aus.
Schamgefühle bei Pflegebedürftigen
Viele Pflegebedürftige haben mit dem Verlust ihrer Fähigkeiten und der Abhängigkeit von anderen zu kämpfen. Für Menschen, die immer selbstbestimmt und unabhängig gelebt haben, kann das sehr belastend und schambehaftet sein. Sie nehmen unfreiwillig eine neue Rolle ein. Denn nun sind sie nicht mehr der starke Mensch, der sie mal waren, sondern brauchen Hilfe.
Anfänglich sind Pflegebedürftige ihren Angehörigen sehr dankbar, dass sie sich um sie kümmern. Doch das schlägt meistens schnell um, wird selbstverständlich. Eine aktuelle Studie des Berliner Zentrums für Qualität in der Pflege hat herausgefunden, dass sich über die Hälfte der pflegenden Angehörigen nicht ausreichend von den zu Pflegenden wertgeschätzt fühlen. Eine mögliche Erklärung dafür: die Pflegebedürftigen wissen natürlich, was sie ihren Angehörigen abverlangen und das wiederum sorgt für Schamgefühle, weil sie die ständige Dankbarkeit auch als eine Abwertung ihrer Selbst empfinden.
Am häufigsten entstehen Schamgefühle, wenn die Grenzen der Intimsphäre überschritten werden. Das ist zum Beispiel der Fall, wenn sich Pflegebedürftige nicht mehr selbst richtig waschen können, sie dabei Hilfe von anderen brauchen. In solchen Momenten fühlen sie sich ausgeliefert, hilflos und herabgewürdigt. Hier ist ganz wichtig, dass die Pflegekräfte oder pflegenden Angehörigen solche Situation erkennen, um sensibel darauf eingehen zu können.
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Schamgefühle bei pflegenden Angehörigen
Aber auch pflegende Angehörige empfinden Scham. Viele entwickeln Ekelgefühle, weil sie ihre Angehörigen nackt sehen, Hilfe in intimen Situationen leisten, zum Beispiel auf der Toilette, bei der Intimpflege oder beim Wechseln von Windeln. Dass sie Ekel empfinden, dafür schämen sie sich mit unter. Sie können aber auch Scham empfinden, weil sie mit ihrem pflegebedürftigen Angehörigen in manchen Situation vielleicht zu grob umgehen oder ihn beschimpfen, weil sie in diesem Moment Wut oder Hilflosigkeit empfinden und mit der Pflegesituation überfordert sind. Viele pflegende Angehörige schämen sich auch, weil sie der Meinung sind, dass sie noch zu wenig leisten und eigentlich viel mehr für die Mutter oder den Vater tun müssten, obwohl sie sich auf der anderen Seite überfordert und überlastet fühlen.
Das große Problem mit der Scham in der Pflege ist, dass sich viele der Betroffenen - sowohl die zu Pflegenden als auch die pflegenden Angehörigen – ihrer Schamgefühle nicht bewusst sind, sie ignorieren und nicht offen kommunizieren. Denn in der häuslichen Pflege stehen meistens ganz praktische, organisatorische Probleme im Vordergrund, die zu bewältigen und zu lösen sind.
„Augen zu und durch!“ ist der falsche Umgang
Gehen Betroffene ständig über Schamgrenzen hinweg und das über einen langen Zeitraum, dann kann das schwerwiegende Folgen haben. Bei Pflegebedürftigen können daraus Depressionen entstehen, es kann sein, dass sie sich abschotten, in sich zurückziehen, einen Schutzpanzer aufbauen, nichts mehr an sich heran lassen, um sich vor ständigen Verletzungen zu schützen.
Bei den pflegenden Angehörigen kann es ebenfalls zu Depressionen kommen, wenn sie ständig ihre Grenzen überschreiten und ihre eigenen Schamgefühle übergehen. Und mehr noch. Im schlimmsten Fall entwickeln sie Wut, Aggressionen und Hass gegenüber den Pflegebedürftigen.Weitere Informationen
Das Zentrum für Qualität in der Pflege hat einen Praxisratgeber für pflegende Angehörige entwickelt. Dieser gibt praktische Tipps, um mit den eigenen Schamgefühlen besser umzugehen und gleichzeitig Schamgefühle bei den pflegebedürftigen Angehörigen vorzubeugen. Zudem zeigt er, wie Angehörige ihr Selbstwertgefühl und das des Pflegebedürftigen schützen können und die Würde auf beiden Seiten gewahrt bleibt.